Die Verborgene Schrift
sie dem Bruder Pförtner ihre Visitenkarte. Es stand noch ihr Mädchenname darauf. Nach kurzem Warten erhielt sie den Bescheid, man könne den Herrn Stabsarzt jetzt nicht stören, er sei bei einer eiligen Operation. Im Vorhofe aber könne sie warten.
Um sich dieses Warten erträglicher zu machen, betrachtete Françoise den alten Treppenturm mit seinen Gargotten, die Wasser in den Hof hinabspien. Der Säulengang um den Hof herum erinnerte sie so sehr an die Säulen der Rathauskolonnade in Thurwiller, daß sie sich zusammennehmen mußte, nicht zu weinen. Dabei sah sie sich plötzlich in einer Fensterscheibe widergespiegelt. Sie fand sich häßlich und reizlos und erschrak in dem Gedanken, daß Heinrich das gleichfalls sehen würde. Sie fand ein Beet mit Astern, pflückte drei verschiedenfarbige und steckte sie in ihr Brusttuch. Dann fing ihr Herzklopfen wieder an. Ein Arzt in blutiger, weißer Blusenschürze kam vorbei. Er sagte ihr Bescheid über die beiden von ihr Eingebrachten, die eben jetzt operiert würden.
Ob sie nicht helfen dürfe? fragte sie. Aber er schlug es höflich ab. »Man läßt keine Externen zu, vor allem keine Frauen.« Er ging weiter.
Sie nahm sich zusammen. Um sich zu zerstreuen, besah sie die Skulpturen, Grabplatten, Säulenknaufe, zerbrochene Bildwerke, die umher lehnten. Sie versuchte, die mittelhochdeutschen Worte zu lesen, die hier und da eingegraben waren. Vor dem Grabmal einer Fürstin Philippine von Geldern blieb sie lange stehen. Es lag da auf dem Steinsargdeckel die kunstvoll gemeißelte Figur einer Frau im geistlichen Gewande. Sie entzifferte den Spruch:
»Ci-gît tout en pourriture
rendant au mort le triomphe de nature
fille ducale passée
Philipp de Cheldren.
Terre seule pour toute couverture
Soeurs, dites lui un requiescat in pace.«
»Hier ruht ganz in Moder und Staub,
der triumphierenden Natur ein Raub,
Philippine von Geldern,
einst Herzogstochter,
Ihre einzige Decke ist Erde jetzt und Laub.
Schwestern, schließt in euer Gebet sie ein.«
Die Krone lag ihr zu Füßen, und ein kleines Nonnenfigürchen, von dem man nur die Mantelfalten, kaum den Körper sah, las in einem Brevier mit gesenktem Haupte.
Alles das hatte etwas Stilles, Ergebenes und Zeitloses. Françoise meinte, der alte Père Anselme müsse kommen und sagen: »Ich weiß nicht, ob du dich entsinnst, im vierzehnten Jahrhundert – –« Aber die Ungeduld riß sie wieder empor. Auf und ab lief sie wie eine Gefangene.
Wie sie da ging, mit wehenden Röcken und emporgewandtem, sehnsüchtigem Gesicht, hatte sie etwas Fliegendes, Starkes, wie von Flügeln emporgehalten.
Sie war wieder am Ende der äußeren Galerie angelangt, als sie einen Arzt in weißem Kittel auf sich zueilen sah. ImLaufen riß er die Bluse ab und warf sie auf eine Steinbank. Er rannte wie ein Kind.
Konnte das Heinrich sein?
Da war er schon bei ihr. »Du bist gekommen! Nach so langer Zeit!« Er umfaßte sie.
Sie regte sich nicht. Sein langer Bart, der Karbolgeruch, den er ausströmte, der Gedanke, daß er von blutenden Menschen kam, machte sie wild. Mit einem Schrei, wie sie nie gewußt hatte, daß er in ihrer Kehle sitzen könne, preßte sie sich an ihn. Und an diesem ihrem eigenen Tierschrei erregte sie sich noch mehr. Sie drückte ihren Mund an seine Lippen wie verdurstet. Und wie ein Insekt, das zu viel Blut in sich gesogen hat, fiel sie dann in einer Art Ohnmacht zurück in seine Arme. Er hielt sie und redete geschwätzig.
»Daß du gekommen bist! Und so wunderschön. So fremd dein Schleier. Was hast du wohl alles durchgemacht um meinetwillen! Nein, erzähl' mir nichts, was dir weh tut! Jetzt nur wir zwei, nur wir zwei.« Seine Stimme bebte und raunte. Sie ließ sich überströmen von ihr. Unverwandt sah sie ihn jetzt an. Sein Gesicht schien männlicher geworden. Ein Zug von Entschlossenheit war da, den sie nicht kannte, und der sie willenlos machte. Sie hatte Heinrich fast vergessen gehabt, merkte sie nun. Einem anderen hatte sie sich weggenommen als dem, den sie nun vor sich sah. Einem, der nur flüchtig in ihr Leben getreten war, einer schönen Erinnerung. Nun aber war alles wieder da, was sie zu ihm gezwungen hatte: die Erkenntnis, daß einzig sie beide zueinander unlöslich gehörten.
Nach ihrer Art schloß sie die Augen, als könne sie die Außenwelt dadurch verbannen und wieder nur ganz sich gehören. Ihm.
Und wieder kam das Heiße, Zitternde von ihm zu ihr, wie damals im Thurwalde. Und jetzt wehrte sich Heinrich nicht mehr gegen sich
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