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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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sagte er beruhigend.
    Sie küßte seine herabhängende Hand mit Heftigkeit. »Nur du, nur du bist gut.«
    Er strich über ihr heißes Haar, unter dem es pulsierte wie bei einem ganz kleinen Kinde. »Du hast ihn getroffen?«
    »Du weißt?«
    Er nickte. »Victor Hugo hat mir gesagt.«
    Da kam eine große, wundervolle Ruhe über sie. »Es ist aus,« sagte sie leise.
    Er nahm sie in seine Arme und ließ sie weinen.

Dritter Teil
    In dem kleinen französischen Badeorte Gérardmer strömte unbarmherzig der Regen über den Girlandenschmuck der Häuser und Plätze, den man in der frühesten Morgenstunde angebracht hatte. Er zerblätterte die großen Papierblumen zwischen ihrem Tannengrün, tropfte auf das pompös geschnörkelte »R F« (»République Française«) der Flaggen und zerweichte die blau-weiß-roten Fähnchen der Kinder, die singend und lachend durch die Straßen sprangen, immer mitten hinein in die regengefüllten Pflasterlöcher, deren Inhalt sich als Schmutzkaskade über die Kleider der Vorübergehenden ergoß. Naß und eifrig unter ihren Regenschirmen schrien die Leute dann lustig auf. Sie nahmen die Sache weiter nicht schwer. Jedermann war fest entschlossen, heute bei Laune zu bleiben, heute am Feste des »Quatorze Juillet« .
    Frankreich feierte den Gedenktag des Bastillensturms, nun zum vierundzwanzigsten Male, seit ihn die Dritte Republik im Juli 1871 wieder eingeführt und zum Nationalfest erhoben hatte; feierte ihn jedesmal gleich vergnügt und ausgiebig, aber ohne besondern patriotischen Überschwang. Man nahm den Tag einfach als Anlaß, sich in der sonst festlosen Sommerzeit wieder einmal zu amüsieren. Selbst die Pariser elegante Welt, die alljährlich sorgfältig den populären Freilufttänzen und lärmenden Umzügen dieses Tages aus dem Wege reiste, rechnete den vierzehnten Juli mit ein in ihre ländlichen Zerstreuungen.
    So sah man auch heute hier in aller Morgenfrühe elegante Equipagen durch die triefende Straße fahren und am Hôtel du Lac anhalten, empfangen von dem in Blau und Gold pompös gekleideten Portier. Man sah schmale dunkelgekleidete Herren,von Kopf zu Fuß ein einziger blanker Strich, die ihren Damen aussteigen halfen und sie dann am Arme unter dem Schirme des Portiers die Steintreppe hinaufführten. Die Damen waren gleichfalls dunkel gekleidet, mit großen Ballonärmeln, die vielgebogenen Strohhütchen kunstvoll auf den hohen Frisuren befestigt. Zierlich und souverän schritten sie einher, schon im voraus die Lippen zum Lachen gewölbt, Neugier und Spott in den Augen.
    In der Grand' Rue entwickelte sich unterdessen ein fieberhaftes Schaffen. Die Schaufenster schmückten sich mit teuern Unnützlichkeiten, schöngeordnet und mit Preistafeln auf farbigem Papier erklärt. Zwischen Torten und Wäsche saßen Kätzchen und blinzelten. Schulschwestern mit ihren Kindern, wie verregnete Hennen mit ihren Küchlein, zogen nach dem Wald, sich Grün für die Kränze zu holen. Geistliche machten mit ihren Schülern Arrangierproben für den Fackelzug heute abend. An den Hotels, der Bank, dem Kasino arbeiteten Burschen in Blusen, die Gasröhrchen zu Buchstaben oder Sternen bogen, und Frauen mit Kleistertöpfen gingen umher, die Plakate frisch anzukleben, aus denen Wind und Regen Ballettröckchen für die Affichensäulen gemacht hatte. Nun hingen sie wieder grade und verkündigten das Programm des Festes:
Um zehn Uhr große militärische Revue.
Um zwölf Uhr Glockenläuten.
Nachmittags Wasserspiele auf dem See, Konzert im Kasino.
Abends Fackelzug, Illumination, Feuerwerk und im
Kasino Absingen der Marseillaise.
Danach Tanz.
    Und das Roulettespiel sei für Nachmittag und Abend dieses Festtages freigegeben. So war das Programm.
    Und jetzt wurde auch der Regen durchsichtiger. Es klärte sich auf. Sofort veränderte sich das Bild. Man stellte Stühle vor die Tür; auf den Balkons der Hotels und an den tief hinabreichenden Fenstern sah man die Damen, wie sie ihre Schleier, Hüte, Mäntel in die Sonne breiteten und sie trocknen ließen.
    Die kleinen weißen Villen, die sich, halb im Grün versteckt, den Berg hinaufziehen, steckten Flaggen heraus, man öffnete die Türen zum Garten.
    Vor einer dieser Villen stand soeben ein junger Mann und läutete an der Gitterpforte des Vorgartens. Hübsch, elegant, die Zigarre im Munde, eine schmale Reisetasche in der Hand, wartete er eine Weile, dann, wie einer, der hier zu Hause ist, griff er mit der Krücke des Regenschirms über das grünumwachsene Mäuerchen zu

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