Die Verborgene Schrift
selber. Der Griff, mit dem er sie umfaßte, wurde begehrlicher. Er zischelte ihr verlangende Worte ins Ohr.
Ihr Gesicht war fahl geworden, wie mit Aschenperlen bedeckt. »Laß mich,« stieß sie hervor.
In ihrer Gebärde war eine solche Verzweiflung, daß er gehorchte. Sie suchte nach Worten. Durch den Seitengang taumelnd, stieß sie sich hier und dort an den Säulen, wie blind geworden. Ihr dunkles Flattern durch das Gewölbe, das eben jetzt von der Abendsonne purpurrot durchflutet war, glich dem Zucken einer armen Seele im Fegefeuer.
Heinrich hatte die Arme ratlos sinken lassen. Er folgte ihren Bewegungen mit den Augen. »Sage mir, was dich so verzweifelt macht!« sagte er. Und dann, unfähig, sich in diesem Augenblicke höchster Manneserregtheit in irgendeinen andern Gedankengang hineinzubegeben, faßte er, da sie eben an ihm vorüberstürmte, rauh nach ihren beiden Händen. »Bin ich dir zuwider?« fragte er leise und heiser. »Sag'! Bin ich dir vielleicht zuwider?«
Sie schüttelte langsam, in seltsamer Feierlichkeit den Kopf. Und dann, ganz schnell, so als könne sie damit auch die Tatsache flüchtig und unwirklich machen, sagte sie es ihm, die Blicke auf ein Schwalbennest gerichtet, das sich da am Endgeästel der gotischen Wölbung dunkel und wollig in den Schatten preßte.
Er verstand sie nicht. »Was sagst du?«
Da wiederholte sie es, grausam jetzt, fast boshaft, froh, ihre Last auf andere Schultern abzuwälzen. »Ich habe mich mit dem jungen Fabrikanten Pierre Füeßli aus Mülhausen verheiratet.«
Sie atmete tief. Die Farbe kam ihr wieder.
Er ließ sie so plötzlich los, daß sie taumelte. Ein Ton zischte auf aus seiner Kehle. Furchtsam sah sie ihn an. Da brach aus seinem Auge ein blauer Strahl, so hart vor Verachtung, daß sie die Hände vors Gesicht hielt. Sie hörte ein Geräusch, das Pförtchen, das zum Inneren des Klosters führte, schnappte ein. Heinrich Hummel war entwichen. Blutbefleckt und weiß leuchtete sein Blusenkittel von der Steinbank drüben.
Sie warf sich an die Pforte. Drinnen hörte sie seine Tritte sich entfernen, stur und hart, wie in endlose Weiten schreitend.
Sie rüttelte am Schloß, das keine Klinke hatte. Sie schrie. Sie legte ihren Kopf an den eisernen Beschlag der Arabeskenknospen, die sich ihr kalt und spitz ins Gesicht bohrten. Blut floß von ihrer Wange. Fühllos und schamlos hämmerte sie mit den Fäusten an die Tür. Zuletzt kam der Mönch mit dem glänzend schwarzen Bart heraus, der sie hereingelassen hatte. Sie fragte nach Heinrich. Der Mönch gab ihr Bescheid. Er sei nach Pont-à-Mousson abgereist in das große Zentrallazarett, habe noch im letzten Augenblick die Vertretung eines Kollegen, der dorthin fahren sollte, übernommen.
Françoise sah ihn an, ohne recht zu verstehen. Ob er ihr nichts hinterlassen hätte? fragte sie.
»Nein, nichts.«
Da packte sie ein Zorn. Hätte er sie beschimpft, geschlagen, sie würde geduldet haben und begriffen. Aber dieses lautlose Entweichen war das Ärgste. »Gerecht sind diese Deutschen, nichts als gerecht!« Sie fühlen nicht, sie verurteilen nur. In diesem Augenblicke dachte sie an Toinette Groff. Herausreißen wollte auch sie aus sich, was sie noch Deutsches in sich hatte!
Beim Weggehen kam sie an Philippine Gelderns Sarg vorbei. »Du hast es gut,« sagte sie und strich über den glatten Stein.
Dann, ohne irgend zu wissen wohin, ging sie davon.
Sie setzte ohne ihr Zutun Fuß an Fuß und kam so weiter, stieß auf der Straße an Menschen und wurde mitgeschoben. Sie fühlte nicht, sie dachte nicht, sie ging und ging. Manchmal sah sie in die Fenster der Häuser hinein, in denen unter der Lampe Familien beim Abendessen saßen oder Leute an ihren Tischen schrieben. An der Place Stanislas strich sie dicht am Grand-Hôtel vorüber. Die Fenster seiner Salons, hell erleuchtet, reichten bis zum Boden. Der Speisesaal war menschengefüllt. Ein Geruch von Speisen, der Françoise Übelkeit erregte, drang heraus. Im Lesezimmer daneben saß ein einzelner Herr und las Zeitung.
Françoise stand das Herz still. »Pierre!«
Er blickte auf, sah eine fliehende Gestalt, die kraftlos schwankte, und war in ein paar Schritten bei ihr. »Wie du zitterst!« Er nahm sie fest an seinen Arm und führte sie ins Haus.
Françoise überließ sich ihm, jede Kraft war ihr gebrochen. Er setzte sie in einen Sessel, rieb ihr die Hände und klingelte nach Wein. Sie sah ihm zu. »Nimm mich mit dir nach Mülhausen!« sagte sie endlich leise.
»Ma femme,«
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