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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Pierre in Gemeinschaft mit Victor Hugo die Schlotterbachsche Fabrik übernahm. Er wollte selbständiger arbeiten können.
    Von da ab fühlte Paul sich in der Heimat heimischer. Das alte Baldehaus, in dem sie wohnten, die Ländlichkeit des ganzen Wesens rund ergänzte besser und willkommener dengemütlosen Zwang des Lyzeums, als die Mülhausener Umwelt das gekonnt hatte. Auch die Eltern schienen bodenständiger dort und widmeten sich ihm mehr als früher.
    Vor allem aber war es Großpapa Balde, der ihn interessierte. Paul wußte, daß die Deutschen ihn im Jahre Siebzig gefangen mitgeschleppt hatten, daß er dann am sechzehnten Februar als Abgeordneter des Elsaß im Deutschen Reichstag zu Berlin gesessen und die Verkündigung der Annexion mitangehört, sich in hohem Zorn erhoben und den Sitzungssaal verlassen hatte. Alle die anderen Abgeordneten hinter ihm her. Und er war anfangs enttäuscht gewesen über die schlichte, fast nachlässige Erscheinung dieses Helden, den er sich in beständig heroischer Attitüde vorgestellt hatte. Wenn er aber heimkehrend an dem neugebauten Gartenhaus vorbeiging, das der Alte jetzt an Stelle des niedergebrannten Pavillons bewohnte, konnte er sich niemals enthalten, hineinzugucken: »Du befindest dich gut, Großpapa?«
    »Bisch net so wunderfitzig, Bub.«
    Martin Balde konnte es nicht leiden, wenn man nach seiner Gesundheit fragte. Paul wußte das, brachte es aber niemals fertig, die höfliche Formel zu umgehen.
    Balde saß gewöhnlich ohne Rock am Schreibtisch, Hemdärmel und Haare in gleichem Weiß. In dem Gesicht, das beim Altern ein wenig kurz geworden war, herrschten gut und spöttisch seine dunklen Augen. »Kumm numme ine, i bin gliech fertig,« sagte er und schrieb an seinen Krankenbüchern, Rezepten oder Briefen weiter. Dann faßte er den Enkel an den Schultern und stellte ihn zur Prüfung vor sich hin. » Nom de Bibbele, 'ne richtige Welsch han sie üs dir g'macht. Ah ja, m'r müeß jo Franzeesch rede mit d'r, monsieur . Unser güet alt Elsässer-Ditsch kann er net meh versteh, pas vrai ?« Dabei nahm er ihn in den Arm und küßte ihn zärtlich. Dann führte er ihn wohl an Großmamas Grab im Park, sprach von dem schrecklichen Brande, von den deutschen Soldaten, die beim Begräbnis gesungen hatten, und von dem bösen, bösen Tag der Republik-Erklärung. Paul mochte davon nichts hören. »Erzähl' von denFesten beim Statthalter,« verlangte er. Er liebte es, von Glänzendem und Heiterem Berichte zu bekommen. Aber der Alte erzählte auf seine eigene Weise. Wie da immer ein paar verächtliche Windfahnen von Elsässern den Statthalter umdrängt und umschmeichelt hätten, wie der Statthalter selber die Honoratioren hofiert und auf die Geringeren im Lande, die Titel- und Mittellosen, nicht geachtet habe, so daß, schlimmer als zu französischer Zeit, Protektion und Rechtlosigkeit geherrscht. Er, Balde, hatte natürlich kein Blatt vor den Mund genommen. Einmal, ganz laut, mitten auf einem der großen Februarempfänge im Statthalterpalais hatte er seine Meinung gesagt. Er sei denn auch nimmer wieder eingeladen worden. »Un geholfe het's doch nix,« fügte er hinzu.
    »Warum hast du es getan?« fragte Paul. Er hatte ein wenig Mißachtung für die Erfolglosen.
    Manchmal auch stöberte er, ohne viel reden zu müssen, in Baldes Zimmer herum, in dem Bücher- und Flaschenschränke die Wände bestellten, und in dem die alten, lieben, bürgerlichen Möbel der Baldes standen.
    Er entsinnt sich noch genau, wie ihm einmal ein Bildchen auffiel, das er bis dahin noch nicht gesehen hatte, die Zeichnung eines Elsässers: Eine Elsässerin und ein Knabe mit großer Werbetrommel steigen aus dem Tal empor, drunten auf allen Wegen und Nebenwegen strömen Burschen herbei, der Trommel zu folgen. »L'Alsace-Lorraine à l'Alsace-Lorraine« hieß die Unterschrift. Während er das betrachtete, trat der Alte hinzu. »G'fällt dir das, hein ?«
    Paul verstand wohl, daß dies eine Frage nach seinem politischen Glaubensbekenntnis bedeuten sollte. »Es ist gut gemacht,« hatte er gesagt. Da war Martin Balde der Zorn rot in die Stirn gestiegen. »Gut gemacht, gut gemacht!« Dann, in seinem alten Ledersessel sitzend, den Kopf etwas emporgerichtet, hatte er mit bebender Stimme, die plötzlich greisenhaft klang, seinen neuen Kampfspruch herausgestoßen. »Français ne puis, Allemand ne daigne, Alsacien suis.« Dabei hatte er die dunklen Augen fest auf das Gesicht des Enkelsgerichtet, der schlank und rosig neben ihm stand

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