Die Verborgene Schrift
und an seinem schmalen Kommunionsring drehte.
Paul weiß dies alles noch ganz gut. »Und wenn nun Frankreich kommt, euch zu befreien?« hatte er zuletzt gesagt.
Da hat Großpapa bitter aufgelacht. »Damit hat es gute Wege, mein Kind. Frankreich wird sich nicht um unserer schönen Augen willen ruinieren. Nein, l'Alsace aux Alsaciens, das ist das Ziel. Und sei es selbst unter deutscher Oberhoheit. Und für das« – der Greis hatte ihn an sich herangezogen und geschüttelt – »für das, mon enfant, sollsch lawe un starwe.«
Wieder einer, der die Hand auf ihn hat legen wollen, ihn auf ein Gelöbnis festhalten.
Paul hatte damals das Wort nicht gesprochen, das der Alte von ihm erwartete. Ein paar Jahre darauf ist Martin Balde gestorben.
Und dann, Elsaß war noch immer deutsch, trotz aller Prophezeiungen, ist er in das militärpflichtige Alter gekommen. Er hatte sich zu entscheiden. Stellte er sich in Thurwiller und wurde damit Deutscher, so war das ein Messerschnitt zwischen ihm und der Mülhauser Familie. Wurde er Franzose, so durfte er deutschen Boden nicht mehr betreten, seine Heimat nie wiedersehen. So oder so war Pierre Füeßli vergeblich der Platzhalter seines Sohnes gewesen.
Seine Eltern griffen in diese erste ernste Entscheidung seines Lebens nicht ein. Sie waren unter sich selber nicht eins. Vater Pierre wollte den Sohn im Elsaß behalten, quand-même, Françoise verlangte leidenschaftlich, ihn an Frankreich zu geben und ihm, wenn er dort ansässig geworden, nachzuziehen. Paul selbst war so unentschieden, daß er sein Schicksal gern an den Knöpfen abgezählt hatte. Ein Brief von Großvater Füeßli, der ihm gänzliche Enterbung in Aussicht stellte, falls er Deutscher werde, gab zuletzt den Ausschlag. Er liebte das Geld und brauchte es, hübsch und voll Appetit auf das Leben, wie er war.
So ging er nach Paris.
Tante Hortense hatte gewünscht, er solle in die französische Armee eintreten. Paul aber machte sich zum Juristen. Er fühlte keinen Beruf zum Soldatenstande. Und er konnte unmutig werden, wenn ihm nun auch hier in Frankreich das alte Lied vom »vengeur« , zu dem er bestimmt sei, gesungen wurde. Man hätschelte in der Gesellschaft förmlich den »verlorenen Bruder«, den man erlösen würde, und dessen Schicksal so poetisch war. Aber Paul fühlte nicht das Talent zum Märtyrer in sich. Und in Paris legte man freilich Kränze nieder vor der Statue der Strasbourg, man ließ bei der Internationalen Ausstellung als patriotische Anziehung Elsässerinnen im Kostüm Sauerkraut und Würstchen verkaufen, man spottete aber nach wie vor über die »têtes oarrées» und machte Lustspielfiguren aus ihnen. Und die Elsässer Familien, die an die Versprechungen der Franzosen geglaubt hatten, die in wenigen Monaten zurückkehren und »ihre Provinz« zurücknehmen würden, jammerten enttäuscht.
So zog Paul es vor, sich vorerst in Frankreich zu akklimatisieren, bemühte sich, möglichst wenig elsässisch zu erscheinen, besserte an seiner Aussprache und achtete auf seine Manieren, die er immer noch ein wenig à l'allemande wähnte.
Er hatte hierfür eine verständnisvolle Lehrmeisterin gefunden: Lucile Deveau née Dugirard, die man an den Kompagnon ihres inzwischen verstorbenen Vaters verheiratete hatte, und die, obgleich Vierzigerin, vor einem Jahre Pauls Maitresse geworden war. In ihrer amüsant-weltklugen Art lenkte sie ihn nach direkt entgegengesetzter Richtung wie Tante Hortense. Sie lachte sehr hübsch über die Exaltation alter Damen und beklagte sich, Hortense habe ihren armen Bruder Armand mit ihrem unpraktischen Idealismus fast in den Tod gehetzt.
Paul hörte ihr belustigt zu. Kam er dann nach Gérardmer, so hatte er ein peinliches Gefühl von Undankbarkeit und Saumseligkeit, das ihm die Tante, die es veranlaßte, nicht lieber machte.
So war es ihm heute nicht unangenehm, die Begegnung mit ihr noch aufzuschieben. Er sah nach der Uhr. Der Gedankewar ihm gekommen, wieder hinunterzugehen und mit der Dampftram bis zur Grenze den Eltern entgegenzufahren.
Die Grenze! Es lag eine geheime Lockung darin, nahe, ganz nahe heranzutreten ans verbotene Land, wenigstens einmal hinüberzugucken. Dann lachte er über sich selbst.
Immerhin sah er so die Eltern eine Viertelstunde früher, und es würde lustig sein, die Elsässer zu beobachten, die ja heute in Scharen herüberzogen nach Frankreich, um die fête nationale zu feiern und ihre Söhne und Verwandten zu sehen. Es hatte sich dies als förmliche
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