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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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einem Apfelbaum hinauf, dessen tiefere Zweige er schüttelte, so daß unter einem Tropfenregen einige frühgelbe Früchte herabfielen. Er bückte sich danach, sammelte sie in der behandschuhten Linken und biß vorsichtig, um die Made darin nicht zu treffen, hinein. Dann schüttelte er enttäuscht den Kopf. »Sieh da,« rief er einer Alten zu, die braun, krumm und mager in ihren weiten Kleidern den Kiesweg herankam, »sieh da, Louison, ich mache einen mißglückten Versuch, den Geschmack meiner sechs Jahre wiederzufinden.« Damit warf er übermütig die angebissenen unreifen Früchte über die Gittertüre.
    Louison, die jetzt erst den Besucher recht erkannte, stieß einen Schrei aus. »Ah, Monsieur Paul.« Sie hastete vorwärts mit jener Eile der Greise, die sich ihnen wie Blei an die Glieder hängt, ihre zitternden Arme vorausschickend.
    »Sind meine Eltern schon eingetroffen aus Thurwiller?« fragte der junge Mann.
    »Madame und Monsieur Füeßli kommen erst mit dem Zuge um elf Uhr.«
    Sie öffnete jetzt. »Man sieht Sie also endlich, Monsieur. Wir erwarteten Sie schon gestern, aber Monsieur kam natürlich nicht. O, dieses Paris! Ah ja! Es hält die jungen Leute fest mit seinen Kletten« – wobei sie das Wort gebrauchte, das in ihrer Klasse die Klette sowohl wie die käuflichen Weiber bezeichnet. »Man kennt das, ah la jeunesse, la jeunesse !«
    Paul Füeßli lachte wohlklingend. »O, welche Schelterin sie noch immer ist, diese Mère Louison. Aber der kleine Säugling von früher, er ist groß geworden, er hat jetzt einenSchnurrbart bekommen, fühle nur« – und während er das alte Familienerbstück zärtlich umarmte, rieb er seinen Bart an ihrer Faltenwange. Sie schrie laut auf vor Vergnügen.
    »Wie befindet sich meine Tante?« fragte der junge Mann, während sie dem Hause zugingen.
    »Madame Dugirard ist mit ihren Enkeln in der Kirche.«
    »Ah, sind also jetzt die Kinder von Madame Désirée hier zu Besuch?«
    Die Alte nickte. »Diese Engelchen.«
    »Und mein Onkel?«
    »Monsieur ist in seiner Käserei.«
    »O, dann will ich ihn nicht stören.«
    Louison hatte die Tasche ergriffen, sie ins Haus zu tragen.
    »Wir haben Ihr früheres Zimmer für Sie bereitet, Monsieur Paul.«
    Der aber blieb im Garten, schüttelte nachdenklich und langsam den Regen aus den dicken Köpfen der Rosen, Stock für Stock, und blickte dann hinunter zur Stadt, auf die blauen, platten Schieferdächer der öffentlichen Gebäude, die wie Seen glänzten, auf die bunte Herde der Ziegeldächer, die sich um sie herumdrängten, und auf die kleinen Schindeldächer, die sich weiter im Tal in Grün vergruben. Er wandte sich zum Kirchhof, das Efeudunkel der alten Kapelle wieder zu begrüßen; eben jetzt spiegelte sich in ihrem Rundfenster die ganz verweinte Sonne. Der junge Füeßli sah das alles mit einem gewissen gerührten Lächeln.
    Er war hier zu Hause gewesen während seiner Schuljahre, die er nach dem Wunsche seiner Eltern bis zur Wiedereroberung des Elsaß durch Frankreich – einige wenige Jahre – in Frankreich verbringen sollte. So hatte ihn denn seine Tante Hortense an Stelle eines eigenen Sohnes erzogen und ihn zum willigen Werkzeuge für ihre fanatischen Revanche-Ideen zu machen gesucht.
    Paul Füeßli entsinnt sich der aufregenden Fahrten nach Belfort. Wie Hortense ihn aufschauen ließ zur trotzig auf dem Felsen erbauten breiten Feste und ihm unter Tränen derBewunderung von den Heldentaten erzählte, die im Jahre Siebzig die Besatzung vollführte. »Die ganze Nation hatte schon die Waffen niedergelegt, Paris und die Departements erklärten sich für besiegt. In diesem verlassenen Winkel des Elsaß aber ließ sich eine Handvoll Tapferer töten für die Ehre Frankreichs. Selbst die Eroberer, diese Grausamen, haben sich der Ehrfurcht nicht erwehren können, man hat den Überlebenden freien Abzug gewährt, man hat ihnen sogar ihre Waffen belassen müssen.«
    Und Paul hat mitgeweint und sich geschworen, wenn er erst groß wäre, so zu sein wie diese Männer. Aber Sieger, nicht Besiegte! Und dann hatte Hortense Dugirard ihm das Denkmal von Bartholdy gezeigt, eingehauen in den Fels unterhalb der Feste. Ein wutbrüllender Löwe, die Pratze kraftvoll gerade vor sich hingestreckt, das mächtige Haupt mit dem geöffneten Maul witternd emporgerichtet, die tiefliegenden Raubtieraugen furchtbar spähend. Darunter stand: »Aux défenseurs de Belfort 1870/71«.
    Eine nationale Sammlung habe das Werk bezahlt, sagte Hortense, und sie selbst habe

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