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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Kloster. Une fille à marier, vous comprenez! Der kleine Victor Hugo hat erst vierzehn Jahre. Sein Gesicht war plötzlich voll Tränen. Madame gab ihm einen kleinen Stoß mit ihrer Fußspitze auf sein Knie: » Vieux drôle, va! Er hat halt e weich Herz, ce pauvre Camille! «
    Bourdon tätschelte ihre Hand: » On fait ce qu'on peut! Mais tenez, not' cousin , jetz solle Sie doch auch unser ditscher Vorfahr sehe, vous savez: le tolle Hümmelle!«
    Er stand auf, ging zum Fenster und nahm ein rundes, verstaubtes Bildchen vom Nagel, ein hübsches, blutjunges Kerlchen im französischen Dreispitz und Militärrock. »Mein deutscher Urgroßvater aus Köln,« sagte Bourdon wohlgefällig. »Un wenn ich mich net trumpier', ein Urgroßonkel von Ihne, mon neveu .«
    Heinrich betrachtete das Bild. Unwillkürlich mußte er die schönen, entschlossenen Züge mit den verweichlichten des Apothekers vergleichen. Der hatte sich behaglich am Fenster in den geblümten Lehnstuhl gesetzt und fing an, vom Ahn zu erzählen: Wie er unter Soubise bei der Reichsarmee diente, dann bei Roßbach elend und verzweifelt sich von preußischen Werbern einfangen ließ, bei Zorndorf ein begeisterter Kampfer des grand Frédéric wurde, beim Überfall auf Hochkirch aber schwer verwundet schließlich desertierte und sich nach Köln durchbettelte. Wie er in Frankreich, Deutschland, Holland vornehme Liebschaften gehabt und die Damen in kostbaren Equipagen mit Wappen und Lakaien an seiner Wohnung vorgefahren seien; wie er übermütig Stadt und Sippe die Stirn geboten, zuletzt aber das schönste und reichste Mädchen von Köln geheiratet hatte, in den Rat gewählt wurde und so zu Reichtum und Ehren kam, die er verschwenderisch mit Freunden und Verwandten teilte. Wie er oft »viere lang« von Köln nach Paris hinübergefahren wäre, um irgendein kostbares Möbel zu erstehen, das da in einem Schloß verkauft wurde.
    Auch Hummel kannte diese alten Geschichten. Man half sich ein und steigerte einander. Bunt und wild stieg alte deutscheZeit auf im sommerheißen, von bürgerlichen Essenzen durchdufteten Stäbchen und machte den Dreien die Augen glänzend. Ein unternehmendes Lächeln lag um Camille Bourdons dicke, faltige Lippen, und Madame ging wie berauscht mit weiten, wehenden Röcken hochatmend im Zimmer hin und her. Auch Hummel war entzündet. Ja, damals gab es noch verwegene Männer und leidenschaftliche Frauen in Deutschland. Damals lebte man noch mit den Sinnen, nicht nur mit dem Geist, der Bildung! Ihm war plötzlich, als habe er das Leben versäumt. »Ja, damals!« sagte er laut.
    Die guten Bourdons faßten diesen Ausruf nach ihrer Weise auf.
    »Isch's denn wohr, mon neveu, « fragte Tante Amélie und blieb dicht vor dem jungen Manne stehen, »isch's denn wohr? Hat's jetz in eurem Ditschland keine rechte Maidele mehr? Nur so Schulmamselle mit Brille uf d'r Nas un gstutzte Haar un Dintefinger, so wie m'r sie im ›Jean qui rit‹ abgmalt gsiet?«
    Und Onkel Camille fragte geheimnisvoll hinter seiner Hand: » Dites donc, jeune homme, isch's immer noch so, daß die kleine Kätterche un Gretche sich mäuselestill halte, wenn ihr ihne als eure propos mache? Un d'rno z'Nacht lasse sie euch doch's Kammertürle wageweit offe?«
    Tante Amélie drohte ihrem Mann mit dem Finger: » Ah, voyez-moi le Don Juan! Um dich alter Babbe wird sich grad e Maidele derangiere! Monsieur Hümmelle que v'la, das isch e anderer Mann, gell!« Sie kniff die glimmerigen Augen ein. »Nur daß ihm sein Bart so wüscht ums Kinn ummewachst, sell will m'r halt net gfalle, sell kennt m'r net do bi uns. Der verkratzt jo dene arme Maidele 's Gsichtle!«
    »Versuche Sie's emol, Tante Amélie!« Übermütig breitete er die Arme gegen sie aus und ließ sich von ihr küssen. Erst auf beide Wangen, dann auf den Mund.
    »Monsieur Bourdon schaut nicht her,« sagte die vergnügte dicke Dame dabei scherzhaft beruhigend. Noch ganz atemlos setzte sie sich auf den Fenstertritt und strickte.
    Jetzt klang von draußen ein langgezogener Gesang herein, mit psalmodierendem Schnörkel nach jeder zweiten Zeile:
    »Hört, ihr Bürger, ich tu' euch kund,
es ist um die neunte Stund'.
Nehmet Feuer und Licht in acht,
Gott geb' euch eine gute Nacht.«
    Das war das Zeichen zum Schlafengehen.
    Hummel freilich saß noch lange oben im Gaststübchen wach. Es ging auf den Platz hinaus. Ihm fast gerade gegenüber stand das schöne alte Rathaus aus dem sechzehnten Jahrhundert. Unversehrt von der Zeit, würdig und harmonisch stand

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