Die verborgene Seite des Mondes
Nähe des Atomwaffentestgebietes bei Las Vegas gelebt, bei einem kleinen Ute-Stamm. Obwohl die Sprengungen auf dem Testgelände seit vierzig Jahren per Gesetz unter der Erdoberfläche stattfinden muss ten, gelangte dabei immer wieder Strahlung in die Luft.
»Durch den Druck, der bei den Explosionen entsteht, schießen Millionen von Gammastrahlen und radioaktiven Jodpartikeln in die Atmosphäre, vermischen sich mit Regenwolken und gehen wer weiß wo nieder«, schimpfte Ada voller Missbilligung. »Weht der Wind aus Richtung Westen, bekommt das Reservat der Ute-Indi aner alles ab. Als Tommy zur Welt kam, gaben ihm die Ärzte keine drei Jahre. Sie rieten Sarah, ihn in ein Heim zu geben, was sie aus Verzweiflung auch tun wollte. Aber ich konnte das nicht zulassen«, die alte Frau schüttelte den Kopf, »nicht bei meinem Enkelsohn. Deshalb habe ich den Jungen bei mir aufgenommen und ihm alles gegeben, was er braucht. Inzwischen ist Tommy vierundzwanzig.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, dass mei ne Kinder ihr Land und ihr eigen Fleisch und Blut im Stich lassen.«
Hanna überhörte den Vorwurf. »Wie geht es Veola und den Kin dern?«, fragte sie mit tapferer Stimme.
Julia horchte auf.
»Veola lebt mit Jason in Eldora Valley. Sie arbeitet für unsere Orga nisation Shoshone Rights . Jason ist fertig mit der Highschool und hat keinen Job. Tracy arbeitet in einem Supermarkt in Elko. Sie wohnt auch in der Stadt.«
Sie fuhr noch eine Weile fort, von ihren Enkeln zu sprechen, aber Julia kam es so vor, als wäre das Herz ihrer Großmutter seltsam un beteiligt. Als würde sie über Fremde reden und nicht über ihre eige nen Enkelkinder.
Wer war diese seltsame Frau, deren Blut in ihren Adern floss? Gab es irgendetwas, das sie miteinander verband, außer dass sie Granny zu ihr sagte? Julia kam es so vor, als würde ihre Großmutter Men schen nicht mögen. Vielleicht war ihr das Mitgefühl für andere ab handen gekommen, während sie so erbittert um ihr Land kämpfte. Vielleicht hatte John Temoke die Ranch verlassen und war nach Deutschland gegangen, weil er nicht so werden wollte wie seine Mutter.
Später lag Julia todmüde im Bett, konnte aber lange nicht ein schlafen, weil die Zeiger ihrer inneren Uhr nicht mit denen auf ihrer Armbanduhr übereinstimmten.
So vieles ging ihr durch den Kopf. Sie hatte unzählige Fragen und wusste nicht, an wen sie sie richten sollte. Es war für sie immer noch unfassbar, dass ihr Vater ihr so vieles verschwiegen hatte. Aber sie konnte es ihm auch nicht mehr vorwerfen. Er hatte alles mit ins Grab genommen: seine Liebe, seine Gründe für die verschwiegenen Wahrheiten, seine Fehler.
Julia weinte. Kein wütendes Schluchzen kam aus ihrer Kehle, die Tränen liefen einfach über ihre Schläfen und versickerten im Kopfkissen. Sie lauschte auf den Wind und die Geräusche der Nacht. Unter dem Trailer, der auf Hohlblocksteinen stand, konnte sie das Huschen, Knistern und Nagen kleiner Tiere hören. Wind strich durch das trockene Gras, ließ die Halme aneinanderstreifen. Irgendwo in den nahen Hügeln heulte ein Kojote und das leise Wiehern eines Pferdes war die Antwort.
Was will ich wirklich hier?, war die übergroße Frage, die alle ande ren in den Schatten drängte. Was will ich hier und was habe ich mir erhofft? Ihre indianischen Großeltern waren Fremde, die auf einem Schrottplatz am Ende der Welt lebten und bisher wenig Interesse an ihrer Enkeltochter zeigten. Sich das einzugestehen, machte Julia schwer zu schaffen.
Irgendwann musste sie dann doch eingeschlafen sein, denn sie wurde wach, weil ihre Blase drückte. Julia stand auf, um zur Toilette zu gehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es keine funktionieren de Toilette im Trailer gab. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach draußen zu gehen, denn der Eimer im Badezimmer war eine wenig verlockende Alternative.
Sie tastete nach der Stabtaschenlampe auf dem Schränkchen ne ben dem Bett und ihre Hände glitten über etwas, das rund war und sich rau anfühlte.
Die Steine. Jemand hatte drei Steine auf das Schränkchen gelegt. Eine Geste, die nicht zu ihrer Großmutter zu passen schien. Aber was wusste Julia schon, wer vor ihr in diesem Bett geschlafen hat te.
Sie fand die Taschenlampe, knipste sie an und schlüpfte in ihre Sandalen. Hanna schlief tief und fest auf der Couch in der Küche. Ju lia hatte einige Mühe mit der Tür. Es war ein Kunststück, in einer Hand die Taschenlampe zu halten und mit der anderen
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