Die verborgene Seite des Mondes
seiner Steine hatte er geopfert, damit es im Trailer wenigstens etwas gab, das schön war.
Simon fragte sich, was das Mädchen wohl dachte. Über ihre Groß eltern und die Ranch. Über das Leben hier. Die meisten Neuan kömmlinge wirkten beim Anblick der heruntergekommenen Ranch verstört. Die klapprigen Behausungen, die ausgedienten Fahrzeu ge, der von Unkraut überwucherte Müll, der immer da war, sooft sie ihn auch wegräumten.
Kaum jemand konnte sich vorstellen, hier zu leben. Für ihn dage gen war die Ranch mehr als ein Ort, an dem er wohnte. Sie war ein lebendiges Wesen, etwas, das vertraut war und ihm Geborgenheit gab.
Simon liebte den Geruch von Erde, Heu und warmen Tierleibern. Den süßlichen Duft wiedergekäuten Grases. Er liebte die Pfade durch die Berge, weil sie von Tieren stammten und nicht von Men schen. Sein Schicksal war nichts, worüber er lange nachdachte. Morgens klingelte kurz vor sechs Uhr sein Wecker und er tat, was getan werden musste. Seine Tage hatten Ordnung und Sinn und ei nen Zweck. Das war nicht immer so gewesen, doch an die Zeit vor der Ranch mochte er lieber nicht denken.
Nun war auf einmal diese Julia da. Ein zierliches Mädchen mit langen Beinen. Sie gefiel ihm, soweit er das aus der Ferne beurteilen konnte. Jedenfalls hatte sie keine Ähnlichkeit mehr mit dem pum meligen Kind auf dem Foto im Ranchhaus. Nur den dicken, geflochtenen Zopf, der ihr bis auf die Taille fiel, den hatte sie immer noch.
Julias Anwesenheit auf der Ranch versetzte Simon in Unruhe. Sein Tagesablauf kam durcheinander und er konnte sich nicht mehr so frei bewegen wie sonst. Jeden Moment musste er damit rechnen, ihr oder ihrer Mutter in die Arme zu laufen. Und dann würde er Höf lichkeitsfloskeln austauschen und, was noch schlimmer war, viel leicht sogar Fragen beantworten müssen.
Weil Simon nicht schlafen konnte, ging er mit Pepper noch einmal nach draußen. Auf unerklärliche Weise zog es ihn zum Trailer. Er stand in der Dunkelheit und lauschte. Doch in der Stille vernahm er nur seine eigenen, lauten Atemzüge.
Plötzlich ging drinnen eine Taschenlampe an und jemand kam he raus. Das Mädchen. Er konnte Pepper gerade noch daran hindern loszubellen. Aber Julia entdeckte ihn und erschrak fürchterlich.
Was musste sie jetzt denken? Dass er ein verrückter Spanner war? Simon verfluchte sein Ungeschick und seine Neugier. Er wünschte, er wäre in seinem Wohnwagen geblieben.
4.
Z um Frühstück fanden sich Hanna und Julia im Ranchhaus ein. Julia aß Cornflakes mit Milch und einen Apfel. Das Frühstück ihrer Groß eltern hatte aus Bratkartoffeln und Rührei bestanden. Beide waren schon seit sechs Uhr auf den Beinen. Der alte Mann war mit Traktor und Mähmaschine im Gelände unterwegs, um Gras zu schneiden. Ada sammelte vor dem Haus Müll in blaue Abfallsäcke.
Nachdem sie gegessen hatten, kümmerte sich Hanna um den Ab wasch. Die Küche war uralt und überall lag Kram gestapelt. Julia merkte, wie schwer es ihrer Mutter fiel, das Geschirr zu spülen. Tel ler und Schüsseln mit festgebackenen Essensresten. Angebrannte Töpfe und Pfannen.
In Adas Küche abzuwaschen war eine Kunst für sich, aber Hanna schien das Ritual zu kennen. Zuerst wurde auf dem Gasherd Was ser zum Kochen gebracht, denn warmes Wasser aus der Leitung gab es nicht. In einem Becken wurde abgewaschen, im zweiten Spülbecken stand eine Schüssel mit dem heißem Wasser. Hatte Hanna einen Teller abgewaschen, musste sie ihn mithilfe einer Metallzange in das heiße Wasser tauchen und dann in den Abtropfrost stellen.
Julia ging kopfschüttelnd nach draußen, um ihrer Großmutter zur Hand zu gehen. Sie verschnürten Abfallsäcke und luden sie auf den klapprigen braunen Truck.
»Grandma?«
Ada hielt inne und sah Julia an. »Was gibt’s?«
»Kann es sein, dass . . . ist Jason vielleicht auf der Ranch?«
Die alte Frau runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste. Er hat sich hier schon lange nicht mehr blicken lassen. Warum sollte er ausge rechnet jetzt kommen, wo ihr da seid? Wie du dir sicher denken kannst, ist er nicht gut zu sprechen auf dich und deine Mutter. Han na hat ihm den Vater genommen.«
Das ist unfair und stimmt nicht, dachte Julia. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass er bereits von seiner Familie getrennt lebte, als er Hanna kennenlernte. Doch sie widersprach ihrer Großmutter nicht.
»Heute Nacht, da war ich draußen und habe einen Jungen gese hen«, sagte sie stattdessen.
Ada lachte. »Ach, das war nur Simon. Er wohnt im
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