Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
das nicht? Außer dir habe ich keine Familie.«
Als Elizabeth das sagte, schloss ich die Augen.
Außer dir habe ich keine Familie
. Seit acht Monaten waren wir nun zusammen, nahmen am Küchentisch drei Mahlzeiten täglich ein und arbeiteten Seite an Seite. Bis zu meiner Adoption waren es nur noch knapp vier Monate. Und dennoch betrachtete Elizabeth mich nicht als Familie. Statt Trauer empfand ich Zorn, und als ich hörte, wie das Telefon klickte, gefolgt vom Plätschern von Schmutzwasser im Ausguss, stürmte ich die Vortreppe hinauf. Mit geballten Fäusten trommelte ich an die Tür, als wollte ich sie einschlagen.
Was bin ich dann?,
hätte ich am liebsten geschrien.
Was machen wir uns hier vor?
Doch als Elizabeth die Tür öffnete und ich ihr erstauntes Gesicht sah, brach ich in Tränen aus. Ich konnte mich nicht erinnern, je geweint zu haben, und die Tränen fühlten sich an wie ein Verrat an meiner Wut. Ich schlug mir ins tränennasse Gesicht. Der stechende Schmerz jedes Klapses sorgte dafür, dass ich noch heftiger weinte.
Elizabeth fragte mich nicht nach dem Grund für meine Tränen, sondern zog mich nur in die Küche. Sie setzte sich auf einen Holzstuhl und nahm mich verlegen auf den Schoß. In wenigen Monaten würde ich zehn werden. Ich war zu alt, um auf Elizabeths Schoß zu sitzen und mich umarmen und trösten zu lassen. Außerdem war ich zu alt, zurückgeschickt zu werden. Plötzlich bekam ich eine Todesangst davor, wieder im Heim zu landen, und war gleichzeitig überrascht, weil Merediths Einschüchterungstaktik anscheinend aufgegangen war. Bitterlich schluchzend vergrub ich das Gesicht an Elizabeths Hals. Sie drückte mich an sich. Ich wartete darauf, dass sie mich auffordern würde, mich zu beruhigen, aber sie tat es nicht.
Minuten vergingen. Am Herd surrte eine Küchenuhr. Doch Elizabeth stand nicht auf. Als ich endlich den Kopf hob, war die Küche von Schokoladenduft erfüllt. Elizabeth hatte ein Soufflé gemacht, um den Wetterwechsel zu feiern; der Geruch war süß und üppig. Ich wischte mir die Augen an Elizabeths Bluse ab, richtete mich auf und wich zurück, um sie anzusehen. Als unsere Blicke sich trafen, stellte ich fest, dass sie ebenfalls geweint hatte. Tränen hingen an ihren Kieferknochen und tropften herunter.
»Ich liebe dich«, sagte Elizabeth, und ich brach wieder in Tränen aus.
Im Backofen brannte das Schokoladensoufflé an.
9.
A m Montagmorgen brach Grant früh zum Blumenmarkt auf, aber ich begleitete ihn nicht. Als ich aufwachte, war ich nicht der einzige Mensch auf dem Anwesen. Männer riefen einander zwischen den Reihen etwas zu, während Frauen auf der feuchten Erde knieten und Unkraut zupften. Ich beobachtete alles durch die Fenster: das Jäten, Pflegen, Düngen und Pflücken.
Bis jetzt war ich noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass mehrere Personen, nicht nur Grant, die viele Quadratmeter großen Felder bewirtschafteten. Doch während ich den Leuten bei der Arbeit zusah, kam ich mir ziemlich albern vor, weil ich es mir anders vorgestellt hatte. Die Aufgabe war gewaltig, und es gab viel zu tun. Obwohl es mir nicht gefiel, die Gärtnerei mit jemandem teilen zu müssen – insbesondere nicht am ersten Tag, den Grant mich hier allein ließ –, war ich dankbar dafür, dass die Arbeiter die vielen verschiedenen Blumen zum Blühen brachten.
Ich schlüpfte in ein sauberes übergroßes weißes T-Shirt und putzte mir die Zähne. Dann griff ich nach einem Laib Brot und meiner Kamera und ging hinaus. Die Arbeiter begrüßten mich mit einem nachdrücklichen Nicken und einem Lächeln, versuchten aber nicht, ein Gespräch mit mir anzuknüpfen.
Ich betrat das erste Gewächshaus. Es war das, das Grant bei unserem ersten Spaziergang für mich geöffnet hatte, und enthielt hauptsächlich Orchideen. An einer Wand drängten sich verschiedene Hibiskusarten und Amaryllis. Da es hier wärmer war, empfand ich mein leichtes T-Shirt als angenehm. Ich begann mit dem obersten Regal an der linken Wand. Nachdem ich die Nummern in mein Notizbuch eingetragen hatte, machte ich zwei Fotos von jeder Blume und schrieb anstatt der Kameraeinstellung ihren wissenschaftlichen Namen auf. Danach schlug ich in einem von Grants Gartenbüchern den gebräuchlichen Namen der Blumen nach, schrieb ihn an den Rand, öffnete mein Blumenwörterbuch und markierte die gerade fotografierte Blume mit einem X. Schließlich hatte ich vier Filmrollen verknipst und sechzehn X in mein Wörterbuch eingetragen. Ich würde
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