Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
Vom Netzwerk:
nicht die Kraft raubten. Ich vermisste es, ein Küchenmesser in der Hand, dem kleinen Traktor zu folgen, mit dem Elizabeth die Reihen jätete, und das stehen gebliebene Unkraut mit der Hand auszuzupfen, wie sie es mir beigebracht hatte: Zuerst lockerte man die Wurzel mit der scharfen Messerspitze und zog dann die Pflanze aus der Erde. Drei Monate hatte ich schon mit dem Messer hantiert, als ich Elizabeth endlich mitteilte, es verstieße gegen das Kinderschutzgesetz, Pflegekinder Messer benutzen zu lassen. Aber sie nahm mir das Messer nicht weg.
Du bist kein Pflegekind,
sagte sie nur. Doch obwohl ich mich nicht mehr wie ein Pflegekind fühlte (offen gestanden fühlte ich mich ganz und gar nicht mehr wie das Mädchen, das vor einem knappen Jahr hier eingetroffen war, so dass ich mich morgens meistens noch lange, nachdem Elizabeth mich zum Frühstück gerufen hatte, im Badezimmerspiegel musterte und nach körperlichen Anzeichen für diese offenkundige Verwandlung suchte), entsprach das nicht den Tatsachen. Ich war noch immer ein Pflegekind, und das würde bis zu meinem Gerichtstermin im August auch so bleiben.
    Ich drängte mich durch die Menschenmenge zu Elizabeth durch. »Brombeeren?«, fragte sie und reichte mir eine grüne Pappschale. Auf einem mit einem roten Tuch bedeckten Tisch hatte der Händler hohe Stöße von Brombeeren, Johannisbeeren, Himbeeren und Boysenbeeren aufgeschichtet. Ich nahm eine aus der Schale und steckte sie in den Mund. Sie war saftig und süß und verfärbte meine Fingerspitzen rot, wo diese die Beere berührt hatten. Ich nickte.
    Elizabeth verstaute sechs Pappschalen in einer Plastiktüte, bezahlte und ging zum nächsten Stand. Ich folgte ihr durch die Gluthitze auf dem Markt und schleppte die Tüten, die nicht in ihren überquellenden Leinensack passten. Am Milchwagen reichte sie mir eine Milchflasche, von der das Kondenswasser perlte. »Fertig?«, fragte ich.
    »Fast. Komm mit«, erwiderte sie und winkte mich zum Ende des Marktes. Noch ehe sie an Blenheims Aprikosenstand, dem letzten Händler in der Reihe, den wir kannten, vorbei war, wurde mir klar, wohin sie wollte. Die glitschige Milchflasche unter den Arm geklemmt, rannte ich Elizabeth nach und hielt sie am Ärmel fest. Aber sie ging nur noch schneller und blieb erst am Blumenstand stehen.
    Rosensträuße lagen in Reih und Glied auf dem Tisch. Aus der Nähe betrachtet, sahen die Blumen atemberaubend makellos aus. Jedes Blütenblatt war steif und glatt und schmiegte sich an das nächste. Die Spitzen bogen sich formvollendet. Elizabeth verharrte und betrachtete wie ich die Blumen. Ich wies auf einen gemischten Strauß, in der Hoffnung, dass sie sich einen aussuchen, zahlen und gehen würde, ohne etwas zu sagen. Doch noch ehe sie etwas kaufen konnte, nahm der Jugendliche die Blumen vom Tisch und warf sie auf die Ladefläche seines Lasters. Ich riss die Augen auf. Er weigerte sich, Elizabeth zu bedienen. Fragend sah ich Elizabeth an, konnte ihrer Miene aber nichts entnehmen.
    »Grant?«, meinte Elizabeth. Er antwortete nicht und schaute auch nicht in ihre Richtung. Sie versuchte es noch einmal. »Ich bin deine Tante Elizabeth. Das weißt du doch sicher.« Er beugte sich über die Ladefläche des Lasters und breitete eine Plane über die Blumen. Obwohl sein Blick auf die Rosen gerichtet war, schien er die Ohren zu spitzen und reckte das Kinn. Er wirkte älter, als es aus der Entfernung den Anschein hatte. Ein leichter Flaum bedeckte seine Oberlippe, und seine Arme und Beine, die ich für mager gehalten hatte, waren muskulös. Er trug nur ein schlichtes weißes Unterhemd, und ich fand den Schwung seiner Schulterblätter, die sich unter dem dünnen Stoff bewegten, faszinierend.
    »Willst du mich ignorieren?«, fragte Elizabeth. Als er nicht antwortete, veränderte sich ihre Stimme so, wie ich es aus den ersten Wochen in ihrem Haus im Gedächtnis hatte: streng, geduldig und plötzlich unerwartet zornig. »Schau mich wenigstens an. Schau mich an, wenn ich mit dir rede.«
    Er tat es nicht.
    »Das Ganze hat nichts mit dir zu tun und hatte es auch nie. Seit Jahren beobachte ich aus der Entfernung, wie du älter wirst, und habe mich immer danach gesehnt, auf dich zuzulaufen und dich in die Arme zu nehmen.«
    Grant sicherte die Plane mit einem Seil. Seine Armmuskeln waren angespannt. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ihn
     jemand in die Arme nahm und dass er nicht immer so stark gewesen war. Nachdem Grant den letzten Knoten festgezurrt

Weitere Kostenlose Bücher