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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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die ganze Woche brauchen, um alles zu fotografieren, was in Blüte stand. Die Blumen, die noch nicht blühten, würden den gesamten Frühling in Anspruch nehmen. Und selbst dann würden mir sicher noch einige Blumen fehlen.
    Da ich nur wenige Schritte von der rückwärtigen Wand entfernt war und den Sucher ans Auge gepresst hatte, stolperte ich über einen großen Gegenstand, der mitten im Gang stand. Als ich hinunterschaute, erkannte ich einen geschlossenen Pappkarton, auf dem mit einem dicken schwarzen Markierstift das Wort
Jonquille
vermerkt war.
    Ich spähte in den Karton. Sechs Tontöpfe standen dicht an dicht. Die sandige Erde war feucht, als wäre sie an diesem Morgen gegossen worden. In der Hoffnung, einen kurz vor dem Sprießen stehenden Schössling zu ertasten, steckte ich den Finger in die Erde. Aber da war nichts. Ich schloss den Karton und setzte meinen Weg fort. Die Kamera klickte, und der Film wurde weitergespult, sobald ich eine neue Blume mit wissenschaftlichem Namen und offener Blüte entdeckte.
    So vergingen die Tage. Morgens fuhr Grant los, bevor ich aufwachte. Ich verbrachte lange Nachmittage allein in den Gewächshäusern und begegnete auf den Wegen zwischen meiner Tätigkeit und dem Wasserturm höflichen Arbeitern. Abends brachte Grant meistens etwas vom Imbiss mit. Manchmal aßen wir auch Dosensuppe, ganze Brotlaibe oder Tiefkühlpizza.
    Nach dem Essen lasen wir gemeinsam im ersten Stock und teilten manchmal sogar das Sofa. An diesen Abenden wartete ich darauf, dass das schwindelerregende Bedürfnis nach Einsamkeit Besitz von mir ergriff, doch immer wenn die Luft im Raum dünner zu werden schien, stand Grant auf, wünschte mir eine gute Nacht und stieg die Wendeltreppe hinunter. Manchmal kehrte er eine Stunde später zurück, dann wieder erst am nächsten Abend. Ich wusste nicht, wo er hinging oder wo er die Nacht verbrachte, und fragte auch nicht nach.
    Ich war schon fast zwei Wochen bei Grant, als er eines späten Nachmittags mit einem Hähnchen nach Hause kam. Roh.
    »Was sollen wir damit machen?«, fragte ich und hielt den kalten, in Plastikfolie verpackten Vogel hoch.
    »Braten«, erwiderte Grant.
    »Was meinst du mit
braten?
«, fragte ich nach. »Wir wissen ja nicht einmal, wie man es reinigt.«
    Grant zeigte mir einen langen Kassenbon. Auf der Rückseite hatte er Anweisungen notiert, die er mir laut vorlas. Sie begannen damit, dass man das Backrohr vorheizen musste, und endeten mit Rosmarin und neuen Kartoffeln.
    Ich schaltete das Backrohr ein. »Das ist mein Beitrag«, verkündete ich. »Von jetzt an bist du auf dich allein gestellt.« Ich setzte mich an den Tisch.
    Grant förderte ein Backblech zutage und schrubbte die Kartoffeln. Dann schnitt er sie in Würfel und bestreute sie mit Rosmarin. Nachdem er sie mit dem Hähnchen auf das Backblech gelegt hatte, rieb er das Ganze mit Olivenöl, Salz und Gewürzen aus einem kleinen Glas ein. Zu guter Letzt wusch er sich die Hände und schob das Backblech ins Rohr.
    »Ich habe den Metzger nach einem möglichst einfachen Rezept gefragt, und das war sein Vorschlag. Nicht schlecht, oder?«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Das einzige Problem besteht darin«, fügte er hinzu, »dass es über eine Stunde dauert, bis es gar ist.«
    »Über eine Stunde!« Beim bloßen Gedanken, eine Stunde warten zu müssen, bekam ich Kopfschmerzen. Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und mein Magen war so leer, dass mir fast übel wurde.
    Grant zündete eine Kerze an und holte ein Kartenspiel heraus. »Zur Ablenkung«, meinte er. Er stellte die Küchenuhr ein und setzte sich mir gegenüber.
    Wir spielten Mau-Mau bei Kerzenschein, das einzige Spiel, das wir beide kannten. Es beschäftigte uns einigermaßen, so dass wir nicht am Tisch umkippten. Als die Küchenuhr surrte, stellte ich Teller auf den Tisch. Grant schnitt die Hühnerbrust in dünne Scheiben. Ich riss eine Keule von dem goldbraunen Vogel ab und fing an zu essen.
    Die Mahlzeit war köstlich und der Geschmack wirklich ein Lohn für so verhältnismäßig wenig Mühe. Das Fleisch war heiß und zart. Ich kaute, schluckte große Bissen hinunter und riss die andere Keule ab, bevor Grant sie sich schnappen konnte. Die gewürzte Haut verspeiste ich zuerst.
    Grant saß mir gegenüber, aß eine Scheibe Hühnerbrust mit Messer und Gabel, schnitt kleine Stücke ab und verzehrte sie langsam. In seinem Gesicht malten sich Freude am Essen und Stolz auf seine Leistung. Schließlich legte er das Besteck weg, und

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