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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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auch nicht. Jeden Tag nach dem Frühstück und meinem Morgenspaziergang schrieb ich etwas in das schwarze in Leder gebundene Notizbuch, das sie für mich gekauft hatte. Obwohl ich einen guten Stil hatte und die Rechtschreibung ausgezeichnet beherrschte, machte ich absichtlich Fehler, damit Elizabeth an meiner Seite blieb, Wörter aussprach und die Seiten korrigierte. Wenn ich fertig war, half ich ihr, das Mittagessen zu kochen. Wir maßen ab, gossen Flüssigkeiten ein und verdoppelten oder halbierten die in den Rezepten angegebenen Mengen. Ordentlich gestapelte Besteckteile verwandelten sich in Brüche, und Tassen mit getrockneten Bohnen wurden zu schwierigen Buchstabenrätseln. Mit Hilfe des Kalenders, den sie benutzte, um das Wetter einzuschätzen, brachte sie mir bei, Durchschnittssummen zu bilden, und erklärte mir die Prozent- und die Wahrscheinlichkeitsrechnung.
    Abends las Elizabeth mir immer etwas vor. Sie besaß regalweise Kinderbuchklassiker, staubige, gebundene Bücher, deren Titel in Goldbuchstaben eingeprägt waren:
The Secret Garden, Pollyanna
und
Ein Baum wächst in Brooklyn
. Allerdings interessierte ich mich mehr für Elizabeths Gartenbaubücher, die Abbildungen der Pflanzen und die chemischen Formeln, die mir die Welt um mich herum erschlossen. Ich prägte mir den Wortschatz ein – Nitratauswaschung, Kohlenstoffrückhalt, integrierte Schädlingsbekämpfung – und benutzte ihn in beiläufigen Gesprächen mit einer Ernsthaftigkeit, die Elizabeth zum Lachen brachte.
    Vor dem Schlafengehen markierten Elizabeth und ich jeden Tag in einem Kalender, der in meinem Zimmer hing. Im Januar kritzelte ich einfach nur ein kleines rotes X in das Kästchen unter dem Datum, doch Ende März trug ich bereits die Höchst- und die Tiefsttemperatur ein, wie Elizabeth es bei ihrem eigenen Kalender tat, vermerkte außerdem, was es zum Abendessen gegeben hatte, und listete die Unternehmungen des Tages auf. Elizabeth schnitt einen Stapel Post-it-Etiketten auf die Größe der Kalenderkästchen zurecht, und an vielen Abenden beschriftete ich fünf oder sechs davon, bevor ich ins Bett kroch.
    Der Kalender war nicht nur ein allabendliches Ritual, sondern auch ein Countdown. Der 2. August war markiert, das gesamte Kästchen rosafarben ausgemalt. Mit schwarzem Filzstift hatte Elizabeth
elf Uhr, zweiter Stock, Zimmer
305
,
hineingeschrieben. Laut Gesetz musste ich ein ganzes Jahr bei Elizabeth gelebt haben, bevor eine offizielle Adoption möglich war. Meredith hatte unseren Gerichtstermin so festgesetzt, dass er genau auf den Tag ein Jahr nach meiner Ankunft fiel.
    Ich sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten, bis Elizabeth mich wieder hereinlassen würde. Ich lehnte den Kopf an die Weinranken. Die ersten grünen Blätter quollen schon aus den prallen Knospen. Ich betrachtete die makellosen, fingernagelgroßen Versionen dessen, was aus ihnen werden würde. Nachdem ich an einem Blatt geschnuppert hatte, knabberte ich eine Ecke ab, beschloss, etwas über den Geschmack von Weinblättern vor dem Wachsen der Trauben in mein Buch zu schreiben, und schaute wieder auf die Uhr. Fünf Minuten.
    Plötzlich hallte Elizabeths Stimme durch die Stille. Sie klang klar und selbstbewusst, und im ersten Moment glaubte ich, dass sie mich gerufen hatte. Ich lief zum Haus, blieb aber ruckartig stehen, als mir klarwurde, dass sie telefonierte. Obwohl sie ihre Schwester seit unserem Besuch in der Gärtnerei kein einziges Mal erwähnt hatte, wusste ich sofort, dass sie Catherine anrief. Erschrocken setzte ich mich unter das Küchenfenster auf den Boden.
    »Eine neue Ernte«, verkündete sie. »Es kann nichts mehr passieren. Ich trinke zwar nicht, habe inzwischen jedoch mehr Verständnis für Dad. Es ist verführerisch, sich morgens als Erstes einen Schluck Whiskey zu gönnen, um die Angst vor dem Frost zu betäuben, wie er zu sagen pflegte. Mittlerweile weiß ich, was er damit gemeint hat.« Eine kurze Pause entstand, und ich erkannte, dass sie wieder einmal nur mit Catherines Anrufbeantworter sprach. »Jedenfalls ist mir klar, dass du mich an diesem Tag im Oktober gesehen hast. Hast du Victoria auch gesehen? Ist sie nicht eine Schönheit? Offenbar wolltest du nicht mit mir reden, und ich möchte das respektieren und dir mehr Zeit geben. Aber ich kann nicht mehr warten. Deshalb habe ich beschlossen, immer wieder anzurufen. Jeden Tag. Vielleicht sogar mehr als einmal täglich, bis du bereit bist, mit mir zu sprechen. Ich brauche dich, Catherine. Begreifst du

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