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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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je wieder in derselben Einrichtung landen sollten. Aber als meine Sammlung größer wurde, wuchs sie mir allmählich ans Herz, und ich erzählte mir immer wieder die Geschichte jedes Gegenstands: Molly, eine frühere Mitbewohnerin, die Katzen liebte; die Zimmergenossin, der man die Armbanduhr abgerissen und dabei den Arm gebrochen hatte; die Kellerwohnung, in der Sarah über die Zahnfee aufgeklärt worden war. Ich hing an den Sachen nicht etwa, weil mir bestimmte Personen etwas bedeutet hätten. Meistens mied ich sie und interessierte mich weder für ihre Namen und ihre Lebensgeschichten noch für das, was sie sich von der Zukunft erhofften. Doch im Laufe der Zeit übernahmen die Dinge die Funktion einer Indizienkette, die in meine Vergangenheit zurückreichte, einer Spur aus Brotkrümeln sozusagen, und ich entwickelte den noch vagen Wunsch, ihr bis zu dem Punkt vor dem Einsetzen meiner Erinnerungen zu folgen. Irgendwann kam es dann zu einem überstürzten und außerplanmäßigen Heimwechsel, bei dem ich den Beutel nicht mitnehmen durfte. Noch viele Jahre später weigerte ich mich deshalb beharrlich, bei einem Umzug meine Sachen zu packen, und trat jede neue Pflegestelle mit leeren Händen an.
    Rasch schlüpfte ich in meine Kleider: zwei Sonnentops, gefolgt von drei T-Shirts und einem Kapuzensweatshirt, eine braune Stretchhose, Socken und Schuhe. Da meine braune Wolldecke nicht in den Rucksack passte, faltete ich sie in der Mitte zusammen, wickelte sie mir um die Taille und steckte alle zweieinhalb Zentimeter mit Sicherheitsnadeln eine Falte ab. Den Saum raffte ich zu Volants wie beim Unterrock eines Abendkleides. Darüber kamen zwei unterschiedlich lange Röcke, der erste durchscheinend und orangefarben, der zweite ausgestellt und weinrot. Als ich mir die Zähne putzte und das Gesicht wusch, musterte ich mich im Badezimmerspiegel und stellte zufrieden fest, dass ich weder einen anziehenden noch einen abstoßenden Eindruck machte. Meine weiblichen Rundungen waren unter den Kleiderschichten gut versteckt, und der extrakurze Haarschnitt, den ich mir am Vorabend selbst verpasst hatte, ließ meine hellblauen Augen – das einzig Bemerkenswerte in einem ansonsten durchschnittlichen Gesicht – so auffällig groß wirken, dass sie meine Züge auf beinahe beängstigende Weise beherrschten. Ich lächelte in den Spiegel. Ich sah nicht aus wie eine Obdachlose. Zumindest noch nicht.
    An der Tür meines leeren Zimmers blieb ich stehen. Das Sonnenlicht fing sich an den weißen Wänden. Ich fragte mich, wer wohl als Nächstes hier einziehen und was diejenige von dem Unkraut halten würde, das am Fußende des Bettes aus dem Teppich wuchs. Ich hatte nicht daran gedacht, meiner Nachfolgerin einen Milchkarton mit Fenchel zu hinterlassen. Die Pflanze mit ihren fedrigen Blättern und dem süßen Lakritzeduft wäre ihr sicher ein Trost gewesen. Aber es war zu spät. Als ich dem Zimmer, das nun nicht mehr meines war, zum Abschied zunickte, war ich plötzlich dankbar für den Einfallswinkel der Sonne, die abschließbare Tür und die Zeit und den Raum, die man mir für eine Weile geschenkt hatte.
    Ich hastete ins Wohnzimmer, schaute aus dem Fenster und bemerkte, dass Merediths Auto bereits mit abgeschaltetem Motor in der Einfahrt stand. Sie betrachtete sich im Rückspiegel. Mit verkrampften Händen umfasste sie das Lenkrad. Ich wirbelte herum, schlich mich zur Hintertür hinaus und setzte mich in den erstbesten Bus, der vorbeikam.
    Ich habe Meredith nie wiedergesehen.

4.
    A us der Brauerei am Fuße des Hügels stieg Tag und Nacht Dampf in den Himmel auf wie eine Rauchwolke. Beim Unkrautjäten beobachtete ich die weiße Masse, deren Anblick dafür sorgte, dass sich ein Hauch von Verzweiflung in meine Zufriedenheit mischte.
    Der November in San Francisco war mild, der McKinley Square ruhig. Mein Garten hatte, mit Ausnahme einer empfindlichen Mohnblume, die Verpflanzung überlebt, und genau vierundzwanzig Stunden lang bildete ich mir ein, ich könnte mit einem Leben im Verborgenen, unsichtbar im Schutz der Bäume, glücklich werden. Während der Arbeit spitzte ich die Ohren, um beim Klang von Schritten sofort die Flucht zu ergreifen. Doch nie verließ jemand den gepflegten Rasen oder steckte neugierig den Kopf in den Wald, wo ich kauerte. Selbst der Spielplatz wurde nur in einem fünfzehnminütigen Zeitfenster vor Schulbeginn genutzt, wenn sorgsam behütete Kinder (ein-, zwei- oder dreimal) schaukelten, bevor sie den Weg den Hügel hinunter

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