Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
fortsetzten. Am dritten Tag konnte ich die Stimmen der Kinder mit einem Namen in Verbindung bringen. Ich wusste, wer auf seine Mutter hörte (Genna), wer bei der Lehrerin beliebt war (Chloe) und wer sich lieber bei lebendigem Leibe im Sandkasten begraben lassen wollte, als noch einen weiteren Tag Unterricht erdulden zu müssen (Greta, die kleine Greta. Hätten meine Astern schon geblüht, ich hätte ihr einen Eimer voll in den Sandkasten gestellt, so verzweifelt klang sie, wenn sie ihre Mutter anflehte, doch noch bleiben zu dürfen). Obwohl die Familien und ich einander nicht sehen konnten, fing ich im Laufe der Tage an, mich auf ihren Besuch zu freuen. Am frühen Vormittag überlegte ich stets, welchem Kind ich wohl am ehesten geähnelt hätte, hätte ich eine Mutter gehabt, die mich jeden Morgen zur Schule brachte. Ich malte mir aus, dass ich gehorsam anstatt trotzig und stets vergnügt anstatt verstockt gewesen wäre. Ob ich dennoch Blumen geliebt und mich nach Einsamkeit gesehnt hätte? Nicht zu beantwortende Fragen plätscherten dahin wie das Wasser, das die Wurzeln meiner ausgiebig und häufig gegossenen wilden Geranien umspülte.
Wenn sich mein Hunger ins Unerträgliche steigerte, stieg ich in irgendeinen Bus und fuhr zur Marina, in die Fillmore Street oder nach Pacific Heights. Dort klapperte ich die teuren Feinkostläden ab, wo ich mich an Theken aus poliertem Marmor herumdrückte und eine Olive, eine Scheibe kanadischen Speck oder ein Stückchen Harvarti verkostete. Dabei stellte ich die Fragen, die Elizabeth gestellt hätte: Welche Olivenöle unfiltriert, wie »frisch« der Thunfisch, der Lachs oder die Scholle und wie süß die ersten Mandarinen der Saison seien. Unentschlossenheit vortäuschend, ließ ich mir weitere Kostproben reichen. Wenn die Verkäuferin sich dann dem nächsten Kunden zuwandte, spazierte ich zur Tür hinaus.
Danach schlenderte ich, mit kaum gestilltem Hunger, über die Hügel und suchte nach Pflanzen zur Erweiterung meines immer größer werdenden Gartens. Dabei durchkämmte ich Privatgärten ebenso wie öffentliche Parks und schlüpfte unter Pergolas aus Winden und Passionsblumen hindurch. Falls ich, was selten vorkam, an eine Pflanze geriet, die ich nicht bestimmen konnte, pflückte ich einen Stengel ab und ging damit rasch in ein belebtes Restaurant. Ich setzte mich an Tische mit stehengelassenen Tellern voller halbverzehrter Lasagne oder Risotto, und stellte die misshandelte Blume in ein beschlagenes Wasserglas, wobei ihr schlaffer Stiel über den Rand hing. Während ich in kleinen Bissen das leckere Essen verspeiste, blätterte ich in meinem Pflanzenführer, musterte die Pflanze und arbeitete methodisch einen Fragenkatalog ab.
Blütenblätter – zahlreich oder nicht auszumachen? Blätter – spitz zulaufend, voneinander abzweigend oder herzförmig? Pflanze sondert ausgiebig eine milchige Flüssigkeit ab, Fruchtknoten hängt seitlich aus der Blüte? Die milchige Flüssigkeit fehlt, Fruchtknoten aufgerichtet?
Nachdem ich die Pflanzengattung ermittelt und mir ihren gebräuchlichen und ihren wissenschaftlichen Namen eingeprägt hatte, presste ich die Blume zwischen den Seiten des Buches und schaute mich in der Hoffnung, einen weiteren nicht ganz leer gegessenen Teller zu entdecken, um. Aber ich sah nie einen.
In der dritten Nacht fand ich keinen Schlaf. Mein leerer Magen rumorte, und zum ersten Mal beruhigten meine Blumen mich nicht. Ihre Schatten schienen mich eher dazu zu ermahnen, dass es an der Zeit sei, einen neuen Job zu suchen, ein neues Leben zu beginnen. Ich zog meine Decke dichter über meinen Kopf und schloss die Augen, während ich immer wieder in einen Halbschlaf verfiel und mich so weigerte, darüber nachzudenken, was ich am nächsten Tag tun würde. Oder den Tag danach.
Mitten in der Nacht wurde ich von scharfem Tequilageruch aus dem Schlaf gerissen. Ruckartig schlug ich die Augen auf. Der Heidebusch, den ich aus einer Seitengasse der Divisadero Street hierher verpflanzt hatte, breitete seine mit Nadeln bewachsenen Zweige über meinem Kopf aus. Durch die jungen Triebe und die leuchtenden, glockenförmigen Blüten erkannte ich die Umrisse eines Mannes, der sich vorbeugte und einen Stengel von meinem Helenenkraut abpflückte. Bei der Bewegung nach vorne kippte die Tequilaflasche, so dass Alkohol hinausschwappte und sich auf den Busch ergoss, unter dem ich mich versteckte. Das Mädchen hinter dem Mann griff nach der Flasche. Sie setzte sich mit dem Rücken zu mir
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