Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
schoss ohne Vorwarnung. Gerade eben lagen seine beiden Hände noch brav auf den Knien, einen Wimpernschlag später hielt er eine rauchende Pistole in der Rechten. Sidorow wurde zwei Meter von dem Golf weggeschleudert und der Fahrgastraum füllte sich mit Qualm. Cortes stieß die Beifahrertür auf, sprang aus dem Wagen und eröffnete das Feuer auf den zweiten Polizisten, der nach einem kurzen Schusswechsel auf seinem Motorrad zusammensackte.
Artjom klammerte sich instinktiv ans Lenkrad und kniff die Augen zusammen. Cortes schwang sich wieder auf den Beifahrersitz und rüttelte ihn an der Schulter.
»Sieh dir den Polizisten an«, forderte er ihn auf, während er seine Pistole nachlud.
»Was?«, fragte Artjom, der es nicht eilig hatte, sich wieder aufzurichten.
»Dort, schau hin!«, befahl Cortes, steckte seine Pistole weg und zeigte mit dem Finger auf Sidorows Leiche.
Artjom spürte, wie sich seine Nackenhaare zu sträuben begannen. Die Umrisse der Leiche veränderten sich: Die Uniformjacke, der Helm und die Dienstmarke auf der Brust verschwanden allmählich. Schließlich lag anstelle des Polizisten ein klein gewachsener, muskulöser Typ auf der Straße, der mit schwarzen Lederklamotten bekleidet war. Um seinen durchschossenen Kopf war ein rotes Tuch gebunden.
»Rothauben«, krächzte Cortes heiser.
»Wie ist das jetzt passiert?«, murmelte Artjom perplex.
»Fahren wir!«
Cortes musste sich nicht wiederholen. Artjom gab Gas.
»Erkläre mir, was hier vor sich geht«, beharrte er trotzdem.
»Sie haben dich getäuscht, indem sie ein Trugbild erzeugt haben.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Das ist so ähnlich wie bei einer Hypnose. Du hast etwas gesehen, was gar nicht da war. Die Polizisten hast du dir nur eingebildet.«
Artjom schüttelte ratlos den Kopf.
»Wir disponieren um«, presste Cortes mit schmerzverzerrtem
Gesicht hervor, während er sich mit der Hand unter die Jacke fuhr. »Wir fahren nach Zarizyno.«
Als er seine Hand wieder hervorzog, sah Artjom aus dem Augenwinkel, dass sie blutverschmiert war.
»Hast du eine Kugel abbekommen?«
»Wir fahren nach Zarizyno«, wiederholte Cortes. »In den Park. Dort findest du eine Ziegelmauer mit einem Eichenholztor. Das ist das Kloster …« Er sank kraftlos auf die Lehne zurück. »Das Kloster der Erli.«
Moskauer Eremitage, Kloster der Erli
Moskau, Zarizyno-Park
Dienstag, 27. Juli, 01:30 Uhr
Das Kloster war nicht leicht zu finden. Zehn Minuten lang irrte der Golf über die dunklen Wege des Zarizyno-Parks, ehe er auf eine hohe Ziegelmauer zufuhr, über der die Kronen alter Bäume im Wind rauschten. Artjom folgte der Mauer, bis er an ein massives, mit geschmiedetem Eisen beschlagenes Tor kam. Dort hielt er auf einem kleinen Vorplatz, der von einer schwankenden Laterne schwach erleuchtet wurde. Cortes hatte das Bewusstsein verloren.
Artjom verfluchte sich für seinen Altruismus, stieg aus, und betätigte mehrfach den gusseisernen Klopfring am Tor. Nichts geschah. Der Form halber wartete er noch ein paar Sekunden, dann klopfte er noch einmal, doch das Quietschen eines Scharniers ließ ihn innehalten. In
einem der Torflügel öffnete sich eine kleine Pforte, aus der zwei Mönche heraustraten.
Der eine war ausgesprochen dürr, und seine Kutte hing wie ein Sack an seiner baumlangen Gestalt. Mit seinen großen, lebendigen Augen musterte er den Besucher, schien jedoch nichts Bemerkenswertes an ihm festzustellen.
»Das Kloster ist geschlossen, mein Sohn«, teilte er mit. »Störe uns nicht in der Andacht und komm ein andermal wieder.«
»Genau«, pflichtete der zweite Mönch bei, während er mit einem Streichholz in seinen Zähnen stocherte. »Wir werden für deine unsterbliche Seele beten. Aber nun verzieh dich.«
Der zweite Mönch war äußerlich das glatte Gegenteil seines hageren Kollegen und strahlte eine gesunde Lebensfreude aus. Die durch seine üppige Beleibtheit zum Bersten gespannte Kutte war mit Brotkrümeln übersät und sein pralles Kinn glänzte fetttriefend. Artjom hatte ihn offenbar von einem nächtlichen Mahl aufgesprengt.
»Ich wäre gar nicht erst hier aufgekreuzt«, rechtfertigte sich Artjom und deutete mit dem Daumen auf sein abgestelltes Auto, »doch ein gewisser Cortes hat mich darum gebeten, ihn hierherzubringen. Hat er sich womöglich in der Adresse geirrt?«
Die beiden Mönche zogen die Brauen hoch.
»Nein, er hat sich nicht geirrt«, verkündete der Lange, begab sich zu Artjoms Golf, öffnete die
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