Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
traurige Anlässe gedacht. Wseslawa fand sie ausgesprochen gelungen.
»Der Leichnam des Boten befindet sich hier im Palast«, verkündete die Königin ruhig. »Ihr könnt euch
selbst davon überzeugen, dass er nicht durch Gewalteinwirkung gestorben ist.«
Die erschütterten Priesterinnen verharrten in Schweigen, und Wseslawa nahm erleichtert zur Kenntnis, dass der ungeheuerliche Vorwurf ihrer alten Rivalin keinen Widerhall fand.
»Wir sind sicher, dass Eure Majestät Jaroslawa ihre Unbeherrschtheit verzeihen«, verlautbarte Miroslawa, die älteste Priesterin des Grünen Hofs. »Das Unglück, das über uns hereingebrochen ist, hat ihr die Sinne vernebelt. Sie wusste nicht, was sie sprach.«
»Wir sind uns darüber im Klaren, dass eine solch schockierende Nachricht irrationale Reaktionen auslösen kann«, verkündete Wseslawa großmütig und flocht feinste Nadelstiche in ihren Tonfall ein. »Deshalb werden wir über diese Entgleisung hinwegsehen.«
Die hellgrünen Augen der Königin richteten ihren Röntgenblick auf Jaroslawa. Die hochgewachsene Priesterin spürte, dass sie auf verlorenem Posten stand, und senkte das Haupt.
»Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen, Eure Majestät.«
Anstatt etwas zu antworten, wandte sich die Königin an Miroslawa.
»Lasst uns nun gehen, um vom Boten Abschied zu nehmen.«
Die Priesterinnen wurden in einen geräumigen Saal geführt. Dieser befand sich im linken Palastflügel, der ausschließlich Privatgemächer der Königin beherbergte. Die hohen Fenster waren mit schweren, dunkelgrünen
Vorhängen verdeckt und die goldenen Leuchter an den seidenbespannten Wänden brannten nicht. Der geschnitzte, offene Totenschrein, in dem man den Leichnam des Boten aufgebahrt hatte, lag im Halbdunkel. Das lange, weißblonde Haar des Jungen war sorgfältig zurückgekämmt und über der hohen Stirn mit einem goldenen Haarreif fixiert. Sein Gesicht schimmerte kalkweiß, und seine Haut wirkte durchsichtig. Auf den Augen lagen gemäß Ludschem Brauch große Goldmünzen. Bekleidet war der Bote mit einem einfachen Leinenhemd, das am Kragen mit einer filigranen, grünen Stickerei verziert war, und mit einer ebenso einfachen Hose.
Die Priesterinnen versammelten sich um den Totenschrein und betrachteten voller Kummer das leblose Gesicht des Boten.
»Woran ist er gestorben?«, erkundigte sich Jaroslawa.
»Die Macht des Regenbrunnens hat ihn hinweggerafft. «
Die Augen der großen Priesterin begannen abermals böse zu blitzen.
»Willst du uns auf den Arm nehmen, Königin?«, zischte sie. »Er ist doch der Bote! Er wäre stark genug gewesen, den ganzen Brunnen leerzutrinken!«
»Er war noch ein Kind und zu schwach!«, entgegnete Wseslawa erzürnt. »Der Brunnen hat seine Seele verbrannt! «
»Du hast ihn bei der Ausbildung mit Absicht überfordert! «
Dieser Vorwurf Jaroslawas entbehrte jeder Grundlage. Alle Priesterinnen waren an der Zusammenstellung des
Ausbildungsprogramms beteiligt gewesen. Jeden neuen Schritt, den Lubomir in der Welt der Magie tat, hatte man zuvor gemeinsam erwogen und beschlossen.
»Wir haben seine Reife alle falsch eingeschätzt«, verfügte Miroslawa, »und jede von uns trägt eine Mitschuld an seinem Tod.«
Mit ihrer tiefen, rauen Stimme erstickte die alte Priesterin den schwelenden Konflikt. Sie glättete würdevoll ihr langes, graues Haar, trat an den Schrein heran und griff nach der Hand des Toten. Die zarten Finger des Jungen verschwanden in der faltigen Hand der Greisin, und im Saal breitete sich eine bedrückende Stille aus. Es schien, als hätten die anderen Priesterinnen den Atem angehalten, um Miroslawa nicht zu stören, die mit geschlossenen Augen in sich hineinhorchte und minutenlang schwieg.
Schließlich öffnete sie die Augen wieder und verkündete: »In seinem Körper befinden sich weder Gift noch Eisen, und sein Geist war ruhig vor seinem Tod. Der Bote ist ohne Fremdeinwirkung gestorben.«
Jaroslawa entfuhr ein Seufzer der Enttäuschung. Wie gerne hätte sie widersprochen, doch sie besann sich eines Besseren. Es wäre allzu verwegen gewesen, die Autorität der alten Priesterin infrage zu stellen.
»Ich werde die Barone in Kenntnis setzen«, schloss Miroslawa.
»Das ist die Aufgabe der Königin, meine Liebe«, versetzte Wseslawa. »Ich habe die Ankunft des Boten verkündet, und ich werde auch verkünden, dass wir ihn verloren haben.«
»Den Baronen wird diese Neuigkeit gar nicht gefallen.
In den Domänen hat man sich bereits auf einen großen Krieg
Weitere Kostenlose Bücher