Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
schon ausgetrunken hatte. Jetzt hätte er einen Schluck vertragen können. Er griff nach seinem Handy und rief den Zauberer an.
»Lubomir, ich bin’s, Säbel.« Der Clanführer hüstelte. »Cortes ist bei den Erli, aber er hat die Beute nicht bei sich. Das ist sicher. Deshalb habe ich beschlossen, das Kloster nicht zu stürmen, sondern nur Wachposten aufzustellen …«
»Die haben jede Menge unterirdischer Gänge dort«, sagte der Zauberer.
»Was?«
»Ach nichts. Fahr zu mir«, befahl Lubomir und legte auf.
Atelier von Alir Cannabis
Moskau, Leningradski-Prospekt
Dienstag, 27. Juli, 05:27 Uhr
»Sie ist schön«, befand Santiago nach kurzem Schweigen. »Wunderschön!«
»Sie ist göttlich, Kommissar. Sie leuchtet von innen. Ihr Lächeln ist wie der erste Sonnenstrahl am Morgen, wie das Sternfunkeln einer Sommernacht, wie …« Der Künstler fuchtelte ausladend mit den Armen. »Sie sehen ja selbst, Kommissar.«
»Es ist Ihnen gelungen, Ihre Liebe auf die Leinwand zu bringen, Alir«, schwärmte Santiago, während er fasziniert das Gemälde betrachtete.
Ein kleiner, waldumsäumter See im Mondschein, verträumt funkelnde Sterne und ein junges Mädchen von blendender Schönheit, das behutsam ins grünlich schimmernde Wasser watet. Der Maler hatte nicht nur den Liebreiz der Badenden, sondern auch sein Entzücken über sie zum Ausdruck gebracht.
»Ein fantastisches Kunstwerk, Alir. Wie viel wollen Sie dafür?«
»Es ist unverkäuflich.«
»Und das aus dem Munde eines Schatyren?«
»Nicht alles auf dieser Welt ist käuflich«, erwiderte Cannabis pikiert. »Manche Werke besitzen einen rein ideellen Wert.«
»Ich verstehe.« Santiago lächelte. »Sie sind verliebt.«
»Nein«, widersprach Alir. »Ich liebe sie, das ist etwas völlig anderes.«
»Jaja, die Liebe ist unergründlich«, philosophierte der Kommissar.
Alir Cannabis war ein typischer Schatyr mit schwarzem Haar und dunklen, listigen Augen. Er entstammte der alteingesessenen Familie Cannabis und galt als einer der genialsten Künstler der Verborgenen Stadt. Das zarte Wesen auf der Leinwand war eine Menschenfrau.
»In einer Woche werde ich sie heiraten«, verkündete Alir. »Wir bekommen ein Kind.«
»Ein Halbblut«, bemerkte Santiago nachdenklich. Er sagte das keineswegs geringschätzig oder überheblich, er stellte lediglich eine Tatsache fest, die er bedauerlich fand. »Das Geschlecht Schatyr wird das Kind nicht akzeptieren. «
»Ich weiß.«
»Was werden Sie tun?«
»Für den Anfang werde ich sie von hier wegbringen, dann sehen wir weiter.«
»Es ist Ihre Entscheidung, Alir, und niemand hat das Recht, Ihnen einen anderen Standpunkt aufzudrängen«, kommentierte Santiago zurückhaltend. Der Kommissar wandte sich von dem Gemälde ab und spazierte in Cannabis’ geräumigem Atelier auf und ab. »Ich wollte mich eigentlich erkundigen, wie es meiner Bestellung geht.«
»Selbstverständlich.« Der Künstler führte Santiago in eine Ecke des Raums, wo eine mit einem weißen Tuch verhüllte Figur stand. »Ich muss sagen, dass ich noch selten unter so starkem Zeitdruck arbeiten musste, doch ich habe mein Bestes gegeben.«
»Der doppelte Preis, den Sie für die Expressanfertigung
verlangt haben, hat Sie in Ihrem Fleiß gewiss beflügelt«, bemerkte Santiago süffisant.
»In gewissem Maße, ja«, gab der Schatyr zu. »Übrigens, Kommissar, was ich Sie immer schon einmal fragen wollte: Warum stellen Sie die Attrappen nicht selbst her? Bei Ihren Möglichkeiten …«
»Möglichkeiten sind nur ein Potenzial, aber noch kein Können«, entgegnete der Naw lächelnd und zeigte auf das Gemälde. »Sehen Sie nur, mir welcher Meisterschaft Sie Ihre Liebe auf die Leinwand übertragen haben. So etwas kann man nicht lernen, das ist wahres Genie. Deshalb wende ich mich an Sie, wenn ich einen Doppelgänger brauche, den man vom Original nicht unterscheiden kann.«
»Danke für das Kompliment«, sagte der Künstler geschmeichelt und nahm das Tuch mit einer schwungvollen Bewegung feierlich von der Figur ab. »Voilà, Ihre Bestellung.«
Die Puppe war eine exakte Kopie von Santiagos engstem Mitarbeiter. Wie der Kommissar es erwartet hatte, gab Alirs Arbeit nicht den geringsten Anlass zur Beanstandung. Nicht einmal Santiago selbst hätte diesen Doppelgänger von seinem Untergebenen unterscheiden können. Er umrundete die reglose Kreatur und fuhr mit dem scharfen Fingernagel des kleinen Fingers über ihre Brust. Aus dem kleinen Kratzer quoll dickes
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