Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
andere war nur ein Ablenkungsmanöver.
Kornilow spürte ein leichtes Stechen im Nacken. Es stellte sich stets ein, wenn er nahe daran war, ein Rätsel zu lösen.
Was also wollten die Angreifer? Den Präsidenten der Tschud Inc. ermorden? Unsinn, solche Persönlichkeiten werden beim ersten Anzeichen von Gefahr versteckt. Eine Geiselnahme? Dann hätte man den Hubschrauber nicht abgeschossen. Vielleicht haben die Gangster ihr Ziel gar nicht erreicht?
Doch eine innere Stimme sagte Kornilow, dass sie ihr Ziel sehr wohl erreicht hatten.
Die Angreifer waren erfolgreich und haben etwas Wertvolles geraubt, was beim Abschuss des Hubschraubers nicht zu Schaden kommen konnte. Und dieses Beutestück wurde in der Gazelle vom Ort des Geschehens weggeschafft. Deshalb wurde der Transporter auch verfolgt und schließlich von der Straße gerammt.
Der Major steckte sich mechanisch die nächste Zigarette an.
Diese Version wäre einigermaßen schlüssig, doch wenn es einen Sturmangriff gegeben hatte, warum um alles in der Welt fand man dann weder im Innenhof noch im Gebäude der Tschud Inc. Spuren davon?
»Andrej, Andrej!« Palytsch rüttelte ihn an der Schulter. »Dort drüben warten jede Menge Journalisten.«
»Na gut, gehen wir.« Der Major erhob sich und klopfte seine Hose ab. »Wie sehe ich aus?«
»Wie mein Chef.«
»Geh schon mal zum Auto, wir fahren gleich.«
Kornilow verspürte nicht die geringste Lust, sich mit der Presse zu unterhalten, doch er musste in den sauren Apfel beißen, denn die Meute hatte ihn schon entdeckt.
»Herr Major, waren bei dieser Schießerei Gangster am Werk?«
»Möglich.«
»Waren es Chamberlains Leute?«
»Möglich.«
»Gibt es einen neuen Bandenkrieg? Eine Neuaufteilung der Macht?«
»Kein Kommentar. Morgen findet im Präsidium eine Pressekonferenz statt, bitte gedulden Sie sich bis dahin.«
»Gab es Verhaftungen?«
»Leider nein. Alle Überlebenden konnten flüchten.«
»Es heißt, ein Polizeihubschrauber sei abgeschossen worden.«
»Das ist ein Gerücht. Es ist tatsächlich ein Hubschrauber
abgestürzt, aber wir wissen noch nicht, wem er gehörte. «
»Haben Sie nicht den Eindruck, dass die Kriminalität in Moskau ein qualitativ neues Niveau erreicht hat?«
»Die Polizei bleibt auch nicht auf der Stelle stehen.«
»Werden Sie weiterhin an der Aufklärung des Vivisektor-Falles arbeiten?«
»Selbstverständlich. Wir tun alles, um den Serienmörder dingfest zu machen.«
Während er auf die Fragen der Journalisten antwortete, war Kornilow langsam zu seinem Dienst-Wolga gegangen und öffnete nun die hintere Tür.
»Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Auf Wiedersehen.«
»Ins Präsidium?«, fragte Palytsch und ließ den Motor an.
»Noch nicht sofort.« Der Major blickte zur Uhr. »Wir machen vorher noch einen kurzen Abstecher zur Krasnaja Presnja. Du weißt schon, wohin.«
Der Laden des Schusters Mechrab stand schon seit je an der Kreuzung Krasnaja-Presnja-Straße/Presnenski Wall. Es handelte sich um eine gewöhnliche schwarze Verkaufsbude, wo ein gewöhnlicher Greis gewöhnlichen Passanten Einlagen, Schnürsenkel, Schuhcreme, Schuhbürsten und sonstige Utensilien verkaufte, kleinere Reparaturen erledigte und, Gerüchten zufolge, sogar hochwertige Schuhe anfertigen konnte. Nur wer braucht so etwas noch in Zeiten billiger Massenware aus dem Supermarkt?
Kornilow, der seine gesamte Jugend in dem Stadtbezirk
verbracht hatte und selbst öfters eine Kleinigkeit bei Mechrab kaufte, unterhielt sich hin und wieder mit dem redseligen Greis, und sein runzeliges Gesicht gehörte für ihn ebenso zum Inventar des Viertels wie das Denkmal Der Pflasterstein – Waffe des Proletariats im Park oder der Univermag an der Ecke. Der alte Mann, der sein bescheidenes Dasein in einer kleinen Bude an einer belebten Straße fristete, war ein völlig unauffälliger Mensch.
Umso überraschender kam für Kornilow eines Tages die Nachricht, dass der brave Schuster Mechrab in einen kapitalen Einbruchsdiebstahl verwickelt war, bei dem ein antiker Dolch aus einem Museum in Taschkent gestohlen wurde. Der Fall hatte sich noch zu Zeiten der Sowjetunion ereignet und für einigen Wirbel in der Presse gesorgt. Andrej arbeitete damals als Praktikant in einer Sonderkommission der Kripo, die in Zusammenarbeit mit den usbekischen Kollegen in der Sache ermittelte. Die Diebe, die in dem Museum eingebrochen waren, hatte man ziemlich schnell gefasst und von ihnen erfahren, wer der Auftraggeber war: ein
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