Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
gegenüber dem Einwohnermeldeamt. Der Haupteingang, über dem in riesigen Leuchtlettern das Firmenkürzel »GW« angebracht war, führte auf die Hauptstraße hinaus und wurde pünktlich um 9 Uhr geöffnet. Artjom parkte seinen Golf wie üblich im Hof und betrat das Gebäude über den Hintereingang.
Die Stimmung in der Firma war so wie das Wetter am Morgen des jungen Tages: freundlich, sonnig und warm. Der sonst grimmig vor sich hinstarrende Wachmann grinste über beide Ohren und setzte Artjom umgehend davon in Kenntnis, dass der Direktor sich überraschend zur Großwildjagd nach Afrika abgesetzt und die Firmenleitung seinem liederlichen Stellvertreter übertragen habe. Beglückt über die Abwesenheit des cholerischen Chefs, saßen die Mitarbeiter entspannt hinter ihren Schreibtischen und freuten sich wie die Kinder über die bevorstehenden stressfreien Tage. In den Gemeinschaftsbüros herrschte eine Atmosphäre brüderlicher Harmonie. Kollegen schlenderten gemächlich durch die
Gänge, und das kleine Café im ersten Stock war völlig überfüllt. An jedem anderen Tag hätte Artjom nicht gezögert, sich der spontanen Plauderrunde anzuschließen, jedoch nicht heute: Der schwarze Rucksack brannte ihm unter den Nägeln.
Nachdem er seine Abteilung erreicht hatte, schaltete er den Computer ein – es sollte wenigstens so aussehen, als würde er arbeiten – und wählte widerstrebend die Nummer, die ihm Cortes diktiert hatte. Am anderen Ende der Leitung wurde sofort abgehoben.
»Ja bitte?!« Die Stimme des Gesprächspartners wirkte nicht unhöflich, aber geschäftsmäßig.
Artjom sah sich um: Die Kollegen diskutierten angeregt über die Abreise des Direktors und schenkten seinem Telefonat zum Glück keine Beachtung.
»Ich habe ein Päckchen von Cortes.«
Artjom kam sich vor wie in einem schlechten Agentenfilm, doch seine dürre Botschaft rief keinerlei Verwunderung hervor.
»Ausgezeichnet. Mein Mitarbeiter Ortega wird zu Ihnen kommen. Wo kann er Sie finden?«
Kein Wort davon, dass man schon die ganze Nacht auf den Anruf gewartet hätte. Artjom gab die Adresse seiner Firma durch.
»Wir brauchen zwanzig Minuten. Bleiben Sie bitte vor Ort.«
Artjom legte auf und spürte sein Herz klopfen. Er war nervös. Das bevorstehende Treffen lag ihm im Magen.
»Ein Kunde?«, fragte Kostik, den man wegen seines Lockenkopfs Puschkin nannte.
In der Abteilung war er der Spaßvogel vom Dienst. Selbstverständlich dachte Artjom gar nicht daran, die Dinge beim Namen zu nennen.
»Das war meine Tante«, fabulierte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf den schwarzen Rucksack. »Ich hatte versprochen, ihr eine Kardanwelle zu besorgen. «
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, sagte Kostik beleidigt.
Artjom lächelte gequält und überlegte, wie er die Situation glätten könnte, da klingelte abermals sein Telefon.
»Entschuldige.« Artjom nahm den Hörer ab. »Hallo?«
»Sie werden in der Eingangshalle erwartet.«
Artjom blickte zur Uhr: Seit dem letzten Anruf waren erst zwei Minuten vergangen, es handelte sich also vermutlich um einen Kunden. Er musste sich auf seine beruflichen Pflichten besinnen.
»Ich komme gleich.«
In der halbleeren Eingangshalle erwartete ihn ein schmächtiger Teenager in einem weißen Dienstoverall. Auf seiner Baseballmütze war das Firmenkürzel TKV aufgedruckt, das Artjom inzwischen schon kannte.
»Zustelldienst. Ich habe eine Sendung für Sie«, verkündete der Junge und streckte Artjom einen Zettel entgegen.
»Ich habe nichts bestellt.«
»Es handelt sich um kostenlose Informationen«, erläuterte der jugendliche Zusteller und wippte ungeduldig auf und ab. »Unterschreiben Sie hier.«
Zufrieden faltete er die von Artjom unterschriebene
Empfangsquittung zusammen und zog aus seiner Umhängetasche einen dicken Umschlag hervor.
»Für Artjom Golowin«, las der Junge laut vor.
»Ja, das bin ich«, bestätigte Artjom und griff nach dem Umschlag.
Doch so billig kam er nicht davon. Der Zusteller zog den Umschlag zurück und setzte einen bettelnden Hundeblick auf. Artjom seufzte und zückte seinen Geldbeutel. Der Hundeblick verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. Nachdem er sein Trinkgeld eingesackt hatte, rückte der Junge den Umschlag heraus und verschwand.
»Werbung?«, erkundigte sich der Wachmann am Empfang.
»Wahrscheinlich.« Artjom betrachtete den Umschlag argwöhnisch.
»Man wird regelrecht zugemüllt mit dem Zeug«, klagte der Wachmann und zupfte ein paar Fusseln von
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