Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
Gelegenheit aus, den neuen Bürohasen zu umgarnen, doch er handelte
sich eine Abfuhr nach der anderen ein. Schurotschka war zwar noch sehr jung, jedoch weit davon entfernt, sich von einem verheirateten Mann um den Finger wickeln zu lassen. Artjom schüttelte den Kopf und verräumte die Werbeflyer in der obersten Schublade seines Schreibtischs. Abermals klingelte das Telefon.
»Sie werden in der Eingangshalle erwartet.«
»Danke, ich komme.«
Artjom legte den Hörer auf und atmete tief durch. Seine Hände begannen zu zittern. Die Unterlagen der rätselhaften T-Grad-Com hatten ihn abgelenkt, doch nun war das bevorstehende Treffen wieder ins Zentrum seines Bewusstseins gerückt. Ruhig bleiben, sprach er sich innerlich Mut zu, ich muss lediglich den Rucksack übergeben. Ich weiß von nichts, und diese Leute wollen auch nichts weiter von mir.
»Die beiden werden sich in achtunddreißig Sekunden treffen, Kommissar«, verkündete Domingo, der unentwegt in die züngelnde Flamme der vor ihm stehenden Kerze schaute. »Artjom ist sehr nervös.«
»Die Wahrscheinlichkeit des Treffens liegt bei vierundneunzig Prozent«, ergänzte Tamir.
Das Treffen zwischen Artjom und Ortega wurde von den besten Spezialisten des Dunklen Hofs, den berühmten »Vegasianern« überwacht. Dieses Analytiker-Duo hatte vor drei Jahren von sich reden gemacht, als es die größten Casinos von Las Vegas um hundert Millionen Dollar erleichterte. Besonders beeindruckt hatten die Amerikaner sechs aufeinanderfolgende Gewinne beim
Glücksrad. Der Kommissar war seinerzeit auf die beiden klugen Köpfe aufmerksam geworden und hatte sie zu seinen persönlichen Analytikern gemacht. Der Naw Domingo, ein hagerer, ungelenk wirkender Typ, trug ein dunkles Sweatshirt und schwarze Jeans von Versace. Seine Aufgabe bestand darin, zukünftige Ereignisse vorauszusagen. Sein Partner, der Schatyr Tamir Cannabis, saß hinter dem Computer und rechnete aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Ereignisse eintreten würden.
Santiago erhob sich von seinem Stuhl und trat vor den großen Wandbildschirm. Die Kamera, von der die Szenerie übertragen wurde, befand sich direkt gegenüber dem Bürohaus der Firma GW, und der Kommissar konnte alles sehen, was sich in der Eingangshalle abspielte. Ortega, der in einem teuren Anzug steckte, lehnte an der Empfangstheke und spielte mit seiner Sonnenbrille herum. Außer ihm befanden sich zwei unfrisierte Männer in T-Shirts und Jeans, eine ältere Dame und ein Wachmann in einem geschmacklosen karierten Sakko in der Halle.
»Wo sind die Rothauben?«, fragte Santiago.
»Sie ziehen den Ring um das Firmengebäude enger«, teilte Domingo mit, bei dem die Informationen der Beobachter zusammenliefen, die der Kommissar auf der Pokrowka-Straße postiert hatte. »Es sind mindestens dreißig Desastros angerückt. Ihr Anführer ist noch nicht vor Ort.«
»Der kommt erst im letzten Moment dazu«, ergänzte Tamir.
»Warten wir’s ab.«
Artjom wusste sofort, welcher der Besucher zu ihm wollte. Es konnte nur der groß gewachsene Mann im eleganten, blauen Anzug sein, der an der Empfangstheke lehnte und seine Sonnenbrille am Bügel rotieren ließ. Die zwei ungepflegten und etwas trottelig aussehenden Typen in Jeans und T-Shirt – gewiss Ingenieure – kamen wohl kaum infrage, ganz zu schweigen von der alten Fregatte, die an einem zerknitterten Lieferzettel herumzupfte.
Als der seriös wirkende Mann Artjom kommen sah, richtete er sich auf und nahm sofort den schwarzen Rucksack ins Visier.
»Sie sind Cortes’ Freund«, sagte er, und es klang nicht nach einer Frage.
Artjom nickte.
»Ich bin Ortega.«
Der Besucher schien eine Vorliebe für kurze, einfache Sätze zu hegen.
»Angenehm«, erwiderte Artjom und lächelte gezwungen.
Ortega nickte und griff langsam mit der rechten Hand in seine Sakkotasche.
Jetzt geht’s los, dachte Artjom und klammerte sich an den Rucksack. Was nun? Weglaufen? Zu spät!!
»Das Erkennungszeichen«, sagte der Mann und nahm die Hand wieder aus der Tasche.
Ein Schlüsselbund fiel scheppernd auf den Boden.
Artjom schrak zusammen.
Ortega bückte sich ohne Hektik, hob den Schlüsselbund auf und hielt Artjom den goldenen Anhänger entgegen.
Darauf war ein Eichhörnchen abgebildet, das an einer Nuss fraß.
»Das Päckchen?«
»Hier.«
Artjom, dem kalter Schweiß in Strömen über den Rücken rann, übergab dem Mann das Objekt der Begierde.
»Gut.«
Ortega betrachtete den Rucksack eine Weile. Der Gesichtsausdruck,
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