Die verborgene Wirklichkeit
Spezielle Relativitätstheorie. Als Raum und Zeit später noch mit der Einsteinschen Verformbarkeit ausgestattet wurden, waren sie plötzlich der flexible Hintergrund für die Allgemeine Relativitätstheorie. Nun, ich habe gesehen, wie Uhren ticken, und ich habe Messungen mit dem Lineal angestellt, aber die Raumzeit habe ich nie auf die gleiche Weise begriffen, wie ich die Armlehnen meines Stuhls begreife. Ich spüre die Wirkungen der Gravitation, aber wenn jemand mich bedrängt und genau wissen will, ob ich unmittelbar bestätigen kann, dass ich in eine gekrümmte Raumzeit eingebettet bin, befinde ich mich wieder in Maxwells Situation. Ich bin zwar überzeugt, dass die Spezielle
und Allgemeine Relativitätstheorie richtig sind, aber nicht deshalb, weil ich handfesten Zugang zu ihren Kernaussagen hätte, sondern aufgrund ihrer Vorhersagekraft: Wenn ich mich auf den begrifflichen Rahmen der Theorie einlasse, kann ich mithilfe der Mathematik Vorhersagen über messbare Größen treffen. Und die Vorhersagen erweisen sich dabei als außerordentlich genau.
Die Quantenmechanik treibt die Unzugänglichkeit noch einen Schritt weiter. Ihre zentralen Bestandteile sind Wahrscheinlichkeitswellen, deren Verhalten einer von Erwin Schrödinger Mitte der zwanziger Jahre entdeckten Gleichung folgt. Solche Wellen spielen in der Quantentheorie eine tragende Rolle; wie wir aber in Kapitel 8 noch genauer erfahren werden, sorgt die Struktur der Quantenphysik dafür, dass sie für alle Zeiten und vollständig unbeobachtbar bleiben. Wahrscheinlichkeitswellen liefern Vorhersagen darüber, wo man dieses oder jenes Teilchen vermutlich finden wird, aber die Wellen selbst liegen außerhalb des Bereichs unserer Alltagsrealität. 2 Da die Vorhersagen so erfolgreich sind, haben ganze Wissenschaftlergenerationen dennoch die seltsame Situation hingenommen, dass eine Theorie ein völlig neues, entscheidendes Konstrukt einführt, das der Theorie zufolge nicht beobachtet werden kann.
Durch alle diese Beispiele zieht sich ein gemeinsames Thema: Den Erfolg einer Theorie kann man im Nachhinein als Rechtfertigung für ihre Grundstruktur nutzen, selbst wenn wir zu dieser Struktur prinzipiell keinen direkten, unmittelbaren Zugang finden können. Das gehört so selbstverständlich zum Alltag theoretischer Physiker, dass sie sich in ihrem Sprachgebrauch und bei den von ihnen formulierten Fragen regelmäßig ohne das geringste Zögern auf Dinge beziehen, die zumindest weit weniger zugänglich sind als Tische und Stühle und mitunter für alle Zeit außerhalb der Grenzen unserer unmittelbaren Erfahrung liegen. v
Wenn wir einen Schritt weitergehen und aufgrund der Struktur einer Theorie etwas über die von ihr erfassten Phänomene erfahren wollen, stoßen wir auf andere Formen der Unzugänglichkeit. Aus der Mathematik der Allgemeinen Relativitätstheorie ergeben sich die Schwarzen Löcher, und astronomische Beobachtungen liefern stichhaltige Indizien dafür, dass Schwarze Löcher nicht nur real, sondern sogar weit verbreitet sind. Dennoch handelt es sich beim Inneren eines Schwarzen Lochs um eine äußerst exotische Raumregion. Nach Einsteins Gleichungen ist die Grenze eines Schwarzen Lochs, sein Ereignishorizont, eine Oberfläche ohne Wiederkehr: Man kann hinein, aber nicht mehr heraus. Als Bewohner der Außenwelt werden wir nie das Innere eines Schwarzen Lochs beobachten, und zwar nicht nur wegen praktischer Überlegungen, sondern ganz prinzipiell, aufgrund der Gesetze der Allgemeinen Relativitätstheorie. Dennoch besteht vollständige Einigkeit darüber, dass die Region jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs real ist.
Die Anwendung der Allgemeinen Relativitätstheorie auf die Kosmologie führt zu noch extremeren Fällen der Unzugänglichkeit. Hat man gegen eine Reise auf einer Einbahnstraße nichts einzuwenden, ist das Innere eines Schwarzen Lochs zumindest ein möglicher Zielort. Dagegen wären Bereiche jenseits unseres kosmischen Horizonts selbst dann unerreichbar, wenn wir nahezu mit Lichtgeschwindigkeit reisen könnten. Besonders deutlich wird diese Tatsache in einem Universum wie dem unseren, dessen Expansion sich beschleunigt. Wenn man den gemessenen Wert der kosmologischen Beschleunigung zugrunde legt (und davon ausgeht, dass er sich nie ändern wird), dann liegt jedes Objekt, das mehr als 20 Milliarden Lichtjahre von uns entfernt ist, für alle Zeit außerhalb des Bereiches, den wir sehen, aufsuchen, messen oder beeinflussen könnten.
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