Die verborgene Wirklichkeit
nicht falsifizierbare Behauptungen, die sich auf verborgene, unseren Beobachtungsmöglichkeiten entzogene Bereiche berufen – das alles scheint weit von dem entfernt zu sein, was die meisten von uns als Wissenschaft bezeichnen würden. Dies ist der Funke, an dem sich die Leidenschaften entzünden. Die Anhänger entgegnen, ein bestimmtes Multiversum sei zwar auf eine andere Weise mit den Beobachtungen verbunden, als wir es gewohnt sind – die Verbindung sei vielleicht indirekter und weniger offenkundig, und es gehöre möglicherweise etwas Glück dazu, sie mit zukünftigen Experimenten zu erfassen –, das heiße jedoch nicht, dass es in den ernstzunehmenden Multiversums-Vorschlägen keine derartigen Verbindungen gebe. Damit ist der Rahmen dessen, was unsere Theorien und Beobachtungen offenbaren können und wie sich unsere Erkenntnisse verifizieren lassen, sehr weit gesteckt – aber die meisten Proponenten sehen keinen Grund, sich für eine solch umfassende Sicht der Dinge zu entschuldigen.
Wie man zum Multiversum steht, hängt auch davon ab, was man für die Kernaufgabe der Naturwissenschaft hält. Allgemeine Zusammenfassungen betonen oft, in der Naturwissenschaft gehe es darum, Regelmäßigkeiten in der Funktionsweise des Universums zu finden, zu erklären, wie diese Regelmäßigkeiten die zugrunde liegenden Naturgesetze beleuchten und wie sich die Gesetze ihrerseits in den Regelmäßigkeiten widerspiegeln, und die so erschlossenen Gesetze zu überprüfen, indem man Vorhersagen trifft, die durch weitere Experimente und Beobachtungen bestätigt oder widerlegt werden können. Das mag zwar eine vernünftige Beschreibung sein, sie übertüncht aber die Tatsache, dass Wissenschaft in der Praxis eine viel chaotischere Angelegenheit ist: Die richtigen Fragen zu stellen, ist dabei häufig ebenso wichtig wie die Entdeckung und Überprüfung der mutmaßlichen Antworten. Die Fragen schweben nicht in irgendeinem leeren
Raum, aus dem die Wissenschaft sie eine nach der anderen herausgreifen könnte. Die Fragen von heute werden vielmehr häufig durch die Erkenntnisse von gestern geprägt. Wichtige Fortschritte bringen in der Regel eine Antwort auf bestimmte Fragen mit sich, werfen aber dafür eine Fülle neuer Fragen auf, die man sich zuvor nicht einmal hätte vorstellen können. Wenn wir einen intellektuellen Vorschlag – auch die Multiversums-Theorien – richtig einschätzen wollen, müssen wir nicht nur berücksichtigen, inwieweit er zur Erschließung verborgener Wahrheiten in der Lage ist, sondern auch, zu welchen Fragen er uns hinführt. Anders gesagt: wie seine Auswirkungen auf die naturwissenschaftliche Praxis aussehen. Wie noch deutlich werden wird, lassen sich einige der tiefgründigsten Fragen, mit denen Naturwissenschaftler sich seit Jahrzehnten herumschlagen, mithilfe der Multiversums-Theorien neu formulieren. Diese Aussicht wirkt auf die einen belebend und macht die anderen wütend.
Vor diesem Hintergrund wollen wir nun systematisch die Legitimität, Überprüfbarkeit und Nützlichkeit theoretischer Systeme untersuchen, die unser Universum als eines von vielen betrachten.
Zugängliche Multiversen
In Multiversums-Fragen Einigkeit zu erzielen, ist unter anderem deshalb so schwierig, weil das Konzept der Multiversen mitnichten einheitlich ist. Wir haben bereits fünf Versionen kennengelernt – das Patchwork-, das inflationäre, das Branen-, das zyklische und das Landschafts-Multiversum –, und in den folgenden Kapiteln werden uns noch vier weitere begegnen. Dass das allgemeine Konzept des Multiversums in dem Ruf steht, sich jeglicher Überprüfbarkeit zu entziehen, ist verständlich. Immerhin, so die typische Einschätzung, betrachten wir hier nicht unser eigenes Universum, sondern andere, aber da wir nur zu dem unseren Zugang haben, könnten wir genauso gut über Gespenster oder den Weihnachtsmann reden. Tatsächlich ist dies das Hauptproblem, und wir werden uns in Kürze damit auseinandersetzen; zunächst einmal gilt es aber festzuhalten, dass manche Multiversen durchaus Wechselbeziehungen zwischen ihren Einzeluniversen zulassen. Wie wir bereits erfahren haben, können Stringschleifen, die ja nicht an eine Bran angeheftet sind, im Branen-Multiversum von einer Bran zur anderen wandern. Und im inflationären Multiversum können die Blasenuniversen sogar noch direkter miteinander in Kontakt treten.
Wie bereits erwähnt wurde, zieht sich durch den Raum zwischen zwei Blasenuniversen des inflationären
Weitere Kostenlose Bücher