Die verborgene Wirklichkeit
mithilfe der Quantenfeldtheorie ein Modell für die Natur formulieren will, muss man sich entscheiden, welche Felder die Theorie im Einzelnen beinhalten soll. Als Leitfaden für die Auswahl dienen sowohl experimentelle Beschränkungen (jede bekannte Teilchenspezies erfordert zwangsläufig, dass das zugehörige Quantenfeld berücksichtigt wird) als auch theoretische Überlegungen (bisweilen greift man auf hypothetische Teilchen und ihre zugehörigen Felder zurück, um bestimmte Probleme zu lösen oder offene Fragen zu beantworten; so ist es beispielsweise beim Inflaton und beim Higgs-Feld). Das Musterbeispiel für solch eine Quantenfeldtheorie ist das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik . Es galt im zwanzigsten Jahrhundert als krönende Errungenschaft der Teilchenphysik, weil man mit seiner Hilfe die Fülle an Daten, die man weltweit mit den Teilchenbeschleunigern gesammelt hatte, genau beschreiben konnte; das Standardmodell ist eine Quantenfeldtheorie, die nicht weniger als 75 verschiedene Quantenfelder beinhaltet (diese Felder entsprechen dem Elektron, dem Neutrino, dem Photon, den verschiedenartigen Quarks – Up-Quark, Down-Quark, Charm-Quark – und so weiter). Das Standardmodell ist zweifellos höchst erfolgreich, aber viele Physiker haben den Eindruck, dass ein wirklich grundlegendes Verständnis keine derart klobige Anhäufung von Zutaten erfordern würde.
Die Stringtheorie hat unter anderem das faszinierende Merkmal, dass die Teilchen sich aus der Theorie selbst ergeben: Jedes charakteristische Schwingungsmuster der Strings entspricht einer eigenen Teilchenspezies. Und da das Schwingungsmuster über die Eigenschaften des zugehörigen Teilchens bestimmt, braucht man nur die Theorie so gut zu verstehen, dass man alle Schwingungsmuster beschreiben kann, und schon hat man sämtliche Eigenschaften sämtlicher Teilchen erklärt. Das Potenzial und die vielversprechende Aussicht der Stringtheorie bestehen demnach darin, dass sie über die Quantenfeldtheorie hinausgeht, weil sie alle Teilcheneigenschaften mathematisch ableiten kann. Damit wäre nicht nur alles unter dem Dach der schwingenden Strings vereint, sondern es würde auch bedeuten, dass zukünftige »Überraschungen« – beispielsweise die Entdeckung
bisher unbekannter Teilchenarten – von vornherein in die Stringtheorie eingebaut und deshalb zumindest prinzipiell und bei ausreichendem Fleiß den Berechnungen zugänglich sind. Die Stringtheorie baut nicht stückchenweise eine immer vollständigere Beschreibung der Natur auf, sondern sie strebt von Anfang an nach einer umfassenden Darstellung.
Zweitens ist wichtig, dass es unter den möglichen Schwingungen der Strings eine gibt, die genau die richtigen Eigenschaften hat, um das Quantenteilchen des Gravitationsfeldes sein zu können. Vor Formulierung der Stringtheorie schlugen theoretische Versuche zur Verschmelzung von Gravitation und Quantenmechanik zwar fehl, die Forschungsarbeiten hatten aber gezeigt, welche Eigenschaften das hypothetische, mit dem Quantengravitationsfeld assoziierte Teilchen – das man auf den Namen Graviton getauft hatte – zwangsläufig haben muss. In den Untersuchungen gelangte man zu dem Schluss, dass das Graviton weder Masse noch Ladung besitzen darf und außerdem eine quantenmechanische Eigenschaft besitzen muss, die als Spin-2 bezeichnet wird. (Ganz grob kann man sagen: Das Graviton muss wie ein Kreisel rotieren, und zwar doppelt so schnell wie ein Photon.) 7 Zu ihrer Begeisterung fanden die ersten Stringtheoretiker – John Schwarz, Joël Scherk und unabhängig von ihnen Tamiaki Yoneya – auf der Liste der Schwingungsmuster von Strings eines, dessen Eigenschaften exakt denen des Gravitons entsprachen. Nachdem sich ab Mitte der achtziger Jahre überzeugende Argumente dafür anführen ließen, dass die Stringtheorie eine mathematisch in sich stimmige quantenmechanische Theorie ist (was im Wesentlichen den Arbeiten von Schwarz und seinem Mitarbeiter Michael Green zu verdanken war), legte der Umstand, dass diese Theorie auch Gravitonen beschreibt, nahe, dass es sich bei der Stringtheorie um die seit Langem gesuchte Quantentheorie der Gravitation handelt . Dies war ein gewaltiger Pluspunkt für die Stringtheorie und der Grund dafür, dass sie sich weltweit schnell zu einem höchst aktiven Forschungsgebiet entwickelte. i 8
Drittens mag die Stringtheorie zwar ein radikal neuartiger Ansatz sein, dennoch nimmt sie andererseits ein altehrwürdiges Prinzip aus der
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