Die verborgene Wirklichkeit
Geschichte der Physik wieder auf. Dass eine neue Theorie erfolgreich ist, bedeutet nicht, dass ihre Vorgänger falschlagen. Vielmehr schließt eine erfolgreiche neue Theorie üblicherweise ihre Vorgängertheorien ein und erweitert das Spektrum der physikalischen Phänomene, die sich genau beschreiben lassen. Die Spezielle Relativitätstheorie ließ uns in den Bereich hoher Geschwindigkeiten vordringen, die Allgemeine Relativitätstheorie in den der großen Massen (das heißt der starken Gravitationsfelder); Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie erweitern unsere Einsicht in den Bereich der sehr kleinen Abstände. Die Konzepte, auf die diese Theorien zurückgreifen, und die von ihnen zutage geförderten Aspekte sind anders als alles, was man sich früher vorgestellt hatte. Wendet man diese Theorien aber in den vertrauten Bereichen der alltäglichen Geschwindigkeiten, Größen und Massen an, so reduzieren sie sich auf die Beschreibungen, die zum Teil bereits lange vor dem zwanzigsten Jahrhundert entwickelt wurden: Newtons klassische Mechanik und die klassischen Felder eines Faraday, Maxwell und anderer.
Die Stringtheorie ist möglicherweise der nächste und letzte Schritt in dieser Reihe. In einem einzigen Rahmen beschreibt sie die physikalischen Wissensbereiche, die zuvor der Relativitäts- und der Quantentheorie vorbehalten waren. Außerdem – und hier lohnt es sich, genau hinzuhören – bewerkstelligt die Stringtheorie dies so, dass alle früheren Entdeckungen einbezogen werden. Eine Theorie, in der es um schwingende Filamente geht, mag auf den ersten Blick mit dem Bild von der Gravitation als gekrümmter Raumzeit, wie es die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt, nicht viel gemein haben. Wendet man aber die mathematischen Verfahren der Stringtheorie auf eine Situation an, in der Gravitation eine Rolle spielt, Quantenmechanik aber nicht (beispielsweise auf ein massereiches Objekt wie die Sonne mit ihrer gewaltigen Größe), so gelangt man wieder zu Einsteins Gleichungen. Auch schwingende Filamente und punktförmige Teilchen sind zunächst ganz verschiedene Dinge. Wendet man die Mathematik der Stringtheorie aber auf Fälle an, in denen Quantenmechanik eine Rolle spielt, Gravitation aber nicht (beispielsweise auf kleine Ansammlungen von Strings, die nicht schnell vibrieren, sich schnell bewegen oder eine lange Ausdehnung haben; das heißt, sie haben eine geringe Energie – was einer geringen Masse entspricht –, so dass die Gravitation praktisch keine Rolle spielt), so gehen die Formeln der Stringtheorie in die der Quantenfeldtheorie über.
Grafisch ist dies in Abbildung 4.3 zusammengefasst. Das Diagramm zeigt die logischen Querverbindungen zwischen den wichtigsten Theorien, die Physiker
seit Newtons Zeiten entwickelt haben. Die Stringtheorie könnte einen scharfen Bruch mit der Vergangenheit notwendig gemacht haben. Sie hätte eindeutig einen Schritt außerhalb des Schemas darstellen können, das in der Abbildung wiedergegeben ist. Aber bemerkenswerterweise ist das nicht der Fall. Die Stringtheorie ist so revolutionär, dass sie die Schranken, die in der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts hemmend gewirkt haben, überwindet. Und gleichzeitig ist sie so konservativ, dass die Entdeckungen der letzten dreihundert Jahre sich ohne Weiteres in ihre mathematischen Beschreibungen einfügen lassen.
Abbildung 4.3 Die Zusammenhänge zwischen den wichtigsten Theorien der Physik in grafischer Darstellung. In der Geschichte verschafften uns erfolgreiche neue Theorien stets Einblick in neue Bereiche (höhere Geschwindigkeiten, größere Massen, kürzere Abstände), während sie, auf weniger extreme physikalische Situationen angewendet, in die entsprechenden früheren Theorien übergehen. Dieses Prinzip des Fortschritts gilt auch für die Stringtheorie: Sie eröffnet uns neue Bereiche, geht aber unter geeigneten Bedingungen entweder in die Allgemeine Relativitätstheorie oder in die Quantenfeldtheorie über.
Raumdimensionen
Jetzt kommen wir zu etwas Merkwürdigem. Die Verwandlung von Punkten in Filamente ist nur ein Teil des neuen Gedankengebäudes der Stringtheorie. In der Anfangszeit ihrer Erforschung stießen die Physiker auf heimtückische mathematische Probleme (sogenannte Anomalien ), die unannehmbaren Vorgängen wie
der spontanen Erschaffung oder Zerstörung von Energie entsprachen. Wenn eine neu vorgeschlagene Theorie solche Probleme aufwirft, reagieren die Physiker in der Regel schnell und in aller Härte.
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