Die verborgenen Bande des Herzens
man sieht, ob er zusammenbricht.«
»Aber es stimmt, nicht wahr?«
»Was?«
»Sieh mal, ich kann in meinem Artikel nicht andeuten, dass er schuldig ist, wenn es nicht wahr ist.«
»Und wenn er es wäre?«
»Nun, das will ich ja gerade von dir wissen. Stimmt es? Ich kann den Leuten nicht einfach so einen Floh ins Ohr setzen, wenn an der Geschichte nichts dran ist.«
»Warum nicht? Du hast doch noch nie der Wahrheit zuliebe auf eine gute Story verzichtet. Du meine Güte, Jack, damals bei deiner Story über die obdachlose Pennerin, da hattest du auch keine Skrupel wegen der Zitate, obwohl ich sie mir in Wirklichkeit ausgedacht hatte. Warum kommst mir jetzt mit so was?«
»Also, es ist schon ein Unterschied, ob man nun irgendeinen Schwachsinn über das Obdachlosendasein erfindet oder jemanden des Mordes bezichtigt.«
»Willst du das Interview nun haben oder nicht?«
»Natürlich will ich es, aber …«
»Nun, ich verschaffe es dir.«
»Ja schon, aber weißt du, es geht hier auch um meine journalistische Glaubwürdigkeit.«
Ich verdrehe die Augen, als ich das höre.
»Deine was ?«
Er versucht nur, mir möglichst viele Informationen zu entlocken.
»Und es ist wirklich unumgänglich, dass du mir alles sagst, was du darüber weißt …«
Wusste ich es doch.
»… denn was mich angeht, so kann ich einfach keine gute Story schreiben, wenn ich nicht daran glaube.«
Jetzt weiß ich wirklich , dass er mich verarscht.
»Jack.«
»Was ist?«
»Komm mir nicht mit diesem Schwachsinn.«
Kurzes Schweigen, dann höre ich am anderen Ende der Leitung spöttisches Lachen.
»Okay. Wann und wo?«
»Ich will das nicht machen, Karen.«
Ich sehe zu, wie Alex im Zimmer auf und ab geht, folge ihm mit meinen Blicken. Fasziniert registriere ich, wie sehr er sich verändert hat, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, wie viel er von seiner Selbstsicherheit eingebüßt hat. Vor sechs Monaten hätte er zu mir gesagt, ich solle mich zum Teufel scheren. Jetzt plagt ihn quälende Unentschlossenheit. Er geht hin und her und hin und her und versucht, Ordnung in seine chaotischen Gedankengänge zu bringen. Er hat keine Ahnung, wie sehr ich will, dass er leidet.
»Ich weiß, Alex, Sie sträuben sich dagegen, aber ich finde wirklich, Sie sollten es machen. Oft verhilft es zu einem Durchbruch, wenn man an die Öffentlichkeit geht. Außerdem kenne ich Jack Thornton. Er ist in Ordnung.«
»Ich werde vor einem Reporter nicht mein Innerstes nach außen kehren.«
»Regen Sie sich nicht so auf«, sage ich und erhebe mich von meinem Stuhl. »Möchten Sie einen Tee?«
Er schüttelt ablehnend den Kopf.
Ich weiß, warum er Angst hat. Alex kann nicht damit umgehen, wenn er gefragt wird, wie er sich fühlt. Er hat keine Ahnung, was er darauf antworten soll, in erster Linie, weil er tatsächlich die meiste Zeit nicht weiß , wie er sich fühlt. Sein Gesicht hat eine ungesunde Farbe bekommen, grau wie Granit, und unter den Augen hat er dunkle Ringe. Im Verlauf der vergangenen Wochen hat auch sein Mienenspiel an Lebhaftigkeit verloren. Er wirkt wie versteinert.
»Wann wollte er hier sein?«
Ich schaue auf meine Armbanduhr.
»In zehn Minuten.«
»Sie haben mir wirklich nicht viel Zeit zum Nachdenken gelassen, Karen. Ich mag es nicht, wenn ich zu etwas gedrängt werde.«
Ich klappe ärgerlich mein Handy auf.
»Hören Sie, Alex, ich habe Ihnen gesagt, wie ich darüber denke. Ich glaube, es wird uns von Nutzen sein. Und außerdem denke ich, wir haben im Grund keine andere Wahl. Ihre Frau wird vermisst, und wir haben jetzt, ein halbes Jahr später, nicht mehr Ahnung, wo sie sich aufhält, als am Tag ihres Verschwindens. Sie können jetzt diesen Versuch machen, oder ich kann Jack Thornton anrufen und absagen. Wie entscheiden Sie sich?«
Ich halte ihm das Telefon hin. »Wollen Sie ihn selbst anrufen?«, frage ich ihn.
Alex erwidert nichts darauf, er wendet mir den Rücken zu und schaut aus dem Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf eingezogen.
»Ich deute das als Nein«, sage ich und klappe das Handy wieder zu.
Jack Thornton sieht aus wie der typische, etwas zerzauste, kleine Bruder, er trägt einen Businessanzug, das schwarze Haar fällt ihm bis über den Kragen, der dunkle Schatten eines Dreitagebart ziert sein Kinn. Sein Hemd ist nicht ganz ordentlich in die Hose gesteckt, die Hosenbeine sind am Knie leicht ausgebeult, und die Hose ist eine Idee zu lang und staucht über den Schuhen. Er muss mittlerweile gut über die
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