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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
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die weite Wasserfläche, die Wellen, deren Kämme mit weißem Schaum bekränzt sind. Einer Anwandlung folgend drehe ich mich herum, betrachte forschend den felsigen Hügel hinter mir. Nirgends eine Menschenseele. Ich bin ganz allein.
    Kann ich es wagen? Es ist ein gutes Gefühl, aus der Jeans zu schlüpfen, die Sonne auf meinen Beinen zu spüren, auch wenn irgendwo tief drinnen ein Teil von mir mein Verhalten missbilligt. Ich lege sorgfältig mein T-Shirt zusammen. Noch ein forschender Blick rundum. Ruhe. Stille. Man würde den Unterschied ohnehin nicht merken. Meine Unterwäsche sieht aus wie ein Bikini. Allerdings würde ich normalerweise nie im Leben mehr auf die Idee kommen, einen Bikini anzuziehen. Handtuch? Meine Strickjacke tut es auch. Verlegenes Zögern, als ich mich aufrichte, die Angst, dass mich jemand heimlich von dem mit Farnkraut bewachsenen Hügel aus beobachten könnte. Blödsinn. Unten am Ufer fühlt sich bereits der feuchte Streifen Sand vor dem Wasser eiskalt an, und ich hüpfe von einem Fuß auf den anderen, lache laut auf, obwohl niemand sonst zugegen ist. Lache, weil niemand sonst zugegen ist. Das Wasser umspült meine Knöchel. Mein Gott, ist das eisig! Die Sonne brennt heiß auf meinen Rücken, während ich bis zu den Knien in dem eiskalten Wasser stehe.
    Dann erfasst mich wilde Freude, ja, Überschwang. Ich laufe wieder hinaus aus dem Wasser, hoch zum Strand, öffne im Laufen meinen BH und werfe ihn neben die ordentlich gefalteten Kleider, wo er wie ein Ausrufezeichen daliegt. Mein Slip klebt an meinen nassen Beinen, während ich halb hüpfend, halb rennend wieder aufs Wasser zulaufe, doch endlich werde ich ihn los, knülle ihn zusammen und schleudere ihn zurück zum Strand. Wieder ins Meer, kein Innehalten, kein Zögern dieses Mal. Ich wehre mich nicht mehr gegen die Eiseskälte, öffne mich ihr, nehme sie an, und so tut sie auch nicht weh. Ich stürze mich in die Wellen, spüre, wie sie gegen meinen Körper schlagen mit solcher Wucht, dass mir ein Schwall Salzwasser in den Mund dringt.
    Prustend schwimme ich hinaus, gegen die Wellen. Ich darf nicht innehalten, muss mich ständig bewegen … bis ich nichts anderes mehr spüre als nur noch die Bewegung selbst und nicht die Eiseskälte um mich. Und nach einer Weile ist mir tatsächlich nicht mehr kalt. Ich fühle mich wohl im Wasser, mein Körper passt die Brecher ab, wirft sich dagegen, wenn sie am höchsten sind, spürt jede Faser seiner Nacktheit, wenn die Wellen dagegenklatschen. Der Hügel liegt kahl und einsam da, der Strand ist menschenleer. Ich schwebe in einer Welt, in der es nur mich gibt. Genieße meine Freiheit und Einsamkeit. Nur das Wasser liebkost mich.
    Wir waren Verbündete, Lily und ich, zwei Außenseiter gegen den Rest der Welt. Doch die Elternsprechstunde, damals in der dritten Klasse, blieb mir all die Jahre im Gedächtnis haften, ich hütete die Erinnerung daran wie einen kostbaren Schatz, weil ich ihm, trotz allem, die Erkenntnis darüber verdankte, wie meine Welt beschaffen war. Wenn es hart auf hart ging, hielten wir beide zusammen, kämpften Seite an Seite, gegen die anderen. Wir waren kein perfektes Paar, aber zumindest waren wir zu zweit.
    Als ich Lily bat, zu der Elternsprechstunde zu gehen, meinte sie, sie sei nicht sicher, ob sie es schaffen werde. Ich schwieg, schlug die Augen nieder, konzentrierte mich auf meinen Teller, Suppe aus der Dose, die ich für uns beide warm gemacht hatte. Lily spielte mit einem Löffel Suppe, doch ihre Hand zitterte so stark, dass sie das meiste verschüttete, ehe sie ihn zum Mund führen konnte. Die Suppe schlage ihr auf den Magen, jammerte sie. Ich schätze, Mulligatawny-Suppe in Kombination mit Gin Cocktails würde wohl jedem auf den Magen schlagen.
    »Miss Bailey hat gesagt, sie will mit dir reden«, erwiderte ich. Ich schaute meine Mutter nachdenklich an. Wahrscheinlich würde ich Schwierigkeiten bekommen, wenn sie nicht erschiene. Doch wie viel schlimmer würde es werden, wenn sie dort betrunken aufkreuzte?
    »Was will sie bloß von mir?« Lily schaute mich fragend an, ihre Augen waren gerötet. Sie sah aus wie ein Kaninchen aus dem Versuchslabor. Sie stützte das Kinn in die Hand, doch während sie mich anblickte, fielen ihr die Augen zu. Ich schob ihren Teller weg, nahm ihren Arm, legte ihn auf den Tisch und bettete ihren Kopf darauf, dann setzte ich mein Mahl fort. Diese Handlung war für mich mit der Zeit so zur Routine geworden, dass ihr jegliche Zärtlichkeit

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