Die verborgenen Bande des Herzens
mich erinnere.«
Er grinst und zeigt mit der Gabel auf mich.
»Die Lady hat Humor.«
Jedenfalls mehr Humor als Carol Ann, denke ich bei mir.
»Woher kommen Sie?«
»Aus Schottland.«
»Jetzt gerade? Glasgow?«
»Ursprünglich. Aber nicht jetzt.«
Er registriert meine Verschlossenheit, und verlegenes Schweigen macht sich breit.
»Und was bringt Sie hierher in unser Dorf?«, fragt er schließlich.
»Ich habe einen Tapetenwechsel gebraucht.«
In dem Blick, den Sean McGettigan mir zuwirft, sehe ich, dass ihm das nicht einleuchtet. Zugegeben, es ist nicht gerade eine ausführliche Erklärung. Eine alleinstehende Frau zieht von Schottland nach Irland, weil sie einen Tapetenwechsel braucht? Ich muss mir eine Antwort einfallen lassen, die ihm plausibel erscheint.
»Mein Mann …«, sage ich. »Also, mein Mann … ist gestorben.«
Das Unbehagen verschwindet aus Seans Gesicht so schnell, wie wenn man Kreide von einer Tafel wischt. Mitleid tritt an seine Stelle, und auch wenn sich ein Hauch Verlegenheit dazugesellt, so weiß ich doch, dass er nun erleichtert ist. Eine Witwe, nun, so etwas kann er nachvollziehen.
»Oh Gott, das tut mir aber leid«, sagt er mit sanfter Stimme. »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe. Kam es denn unerwartet?«
Ich weiche seinem Blick aus. »Ich musste seit Längerem damit rechnen«, erzähle ich, »aber als es dann so weit war …« Ich hebe den Blick und schaue zu dem Spiegel an der Wand über dem Tresen. »Ja … das Ende kam ganz plötzlich, denke ich.« In meinem Augenwinkel bildet sich eine Träne. Ich spüre, wie sie größer wird, als würde ein mit Wasser gefüllter, kleiner Luftballon sich immer weiter ausdehnen. Dann plötzlich platzt er, und die Flüssigkeit quillt heraus, rinnt mir über die Wange bis hinunter zum Kinn. Die Träne ist echt. Ich musste mich nicht verstellen. Mein Mann ist tot. Er ist tatsächlich tot. Und ich habe ihn früher einmal geliebt.
Meine Hand liegt flach auf der Tischplatte vor mir. Sean McGettigan streckt den Arm aus und drückt sie, umschließt sie mit seiner großen derben Pranke. Seine Finger um meine knöcherne Hand fühlen sich an wie dicke weiche Würste. Meine Hände sind das Dünnste an mir. Mein Körper ist weich und rund, doch meine Hände sind es, die irgendwie mein Leben widerspiegeln: Sie sind dünn, knöchern, ein Netz blauer Venen überzieht die blasse Haut meines Handrückens, sie treten so deutlich hervor, dass man sich an Bergkämme erinnert fühlt. Ich rühre mich nicht; meine Hand erwidert den Druck nicht, sondern ruht einfach nur kurz in der seinen.
Er räuspert sich. »Verzeihen Sie«, sagt er und lässt meine Hand los. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Wange.
»Das ist schon okay.« Ich schenke ihm ein Lächeln aus wässrigen Augen.
»Hier«, sagt McGettigan schroff und schiebt seinen Teller zu mir her, »essen Sie was.« Der Moment ist gefährlich, noch ist alles in der Schwebe, doch es könnte nun jeden Moment in die eine oder andere Richtung kippen. Dann schaue ich ihn an, und beide fangen wir an zu lachen, völlig unerwartet, ganz spontan, und es ist, als würde plötzlich nach einem Regen die Sonne durch die Wolken brechen.
»Na also«, sagt er. »So ist’s schon besser.«
»Meinen Sie, Sie könnten eine Barfrau aus mir machen?«
»Ach, mein Gott, keine Ahnung«, sagt er, »aber andererseits suche ich so verzweifelt eine Aushilfe, dass ich es mit Ihnen versuchen will.«
Daraufhin bekomme ich eine Führung durch das Lokal. Und meine erste Unterrichtsstunde, wie man ein Bier ordentlich zapft.
»Hallo Davie!«, ruft McGettigan aus, als ein alter Knabe im Overall das Lokal betritt.
»Hallo«, erwidert Davie. Er beäugt mich kritisch.
»Wir haben ’ne neue Barfrau, Davie.«
»Das sehe ich. Ein Pint Guinness, wenn’s recht ist«, sagt der Alte und knallt die abgezählten Münzen auf den Tresen.
»Immer mit der Ruhe«, weist Sean mich an. »Na, na, na … wenn man zu schnell macht, kriegt man zu viel Schaum. Immer schön langsam. Okay, fangen wir noch mal von vorn an. Frisches Glas. Langsam jetzt, langsam. Genauuu so! Gut, stopp jetzt. Das muss sich jetzt erst mal setzen, ehe man weiter einschenken kann.«
»Wenn’s geht, heute noch«, grummelt Davie ungeduldig.
»Nun dräng sie nicht, Mann«, erwidert Sean, »du kriegst dein Bier schon noch. Sie ist einen Tearoom gewöhnt, kein Pub.«
»Mein Gott, dann wird sie uns hier nicht viel nützen«, versetzt Davie. »Meinen Durst kann man mit keinem Tee
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