Die verborgenen Bande des Herzens
der Welt nicht löschen!« Doch als ich einen Blick riskiere, sehe ich, dass seine Mundwinkel sich zu einem halben Lächeln verziehen. »Hör mal«, sagt er zum Wirt und deutet mit der Hand auf das halb volle Glas, »ich trink einstweilen diese Brühe da, dann kann sie in der Zwischenzeit in Ruhe ein Neues zapfen, und wir brauchen das Zeug nicht wegschütten.«
»Ach, meinetwegen, du alter Geizkragen«, sagt Sean gutmütig und schiebt ihm das Glas über den Tresen zu.
Ich bleibe nur ein, zwei Stunden. Meine erste offizielle Schicht ist Donnerstagabend, doch ich stimme mit Sean überein, dass es besser wäre, wenn ich bereits am Spätnachmittag käme. Ich lege die halbe Meile nach Haus in dem beschwingten Gefühl zurück, dass ich den Grundstock für mein neues Leben gelegt habe. Der Verdienst bei McGettigan’s ist minimal. Aber das spielt keine Rolle. Ich bin nicht darauf angewiesen. Das ist ja gerade das Seltsame. Zu Hause, in deinem alten Leben, denkst du immer nur an das, was du willst und nicht bekommst. An die Löcher. Die Leere. Die Erwartungen, die sich nicht erfüllen. Doch wenn du auf dich gestellt bist, ist es plötzlich anders. Du erwartest erst einmal nichts. Jetzt im Augenblick bin ich glücklich. In diesem Moment. Kein Blick zurück. Kein Blick nach vorn. Nur leben, hier und jetzt.
17. Kapitel
Karen
W ut? Ob ich weiß, was Wut ist? Ich habe den Schatten an der Wand jahrelang beobachtet, während ich im Bett lag und mir das Herz bis zum Hals klopfte. Während ich wartete, immer auf der Hut, ob er sich bewegte. Das Licht im Korridor brannte die ganze Zeit, und wenn er draußen vor der Tür stand, sah man den scharfen Umriss seines länglichen Schattens an der Wand, der sich manchmal leicht hin und her bewegte, wenn er torkelte. Einmal sah ich, wie der Schatten die Hand ausstreckte und die Tür sich einen Spalt öffnete. Ich spähte angestrengt ins Halbdunkel, hielt den Atem an, bis ich das Gefühl hatte, meine Lunge würde im nächsten Moment platzen. Ein stummer Schrei entwich meinem Mund, ich versuchte zu atmen, ohne ein Geräusch zu machen. Und mit einem Mal war der Schatten wieder verschwunden, das Licht ging aus, und ich lag wieder im Dunkeln, in Lauerstellung, ob er zurückkommen würde.
Ich habe immer noch einen leichten, unruhigen Schlaf. Sogar jetzt noch, nach all den Jahren, schrecke ich manchmal nachts hoch, mit rasendem Herzklopfen, und spähe ins Dunkel, ob sich irgendwo der Schatten heranschleicht, ob sich seine schwarze Silhouette langsam über meine Wand schiebt.
Es ist für mich von Vorteil, dass der geheimnisvolle Doug, während ich ihn zu erkennen versuche, nach einer ganz anderen Person Ausschau hält. Carol Ann nämlich. Wenn er das Lokal betritt, wird er erst einmal rundum blicken und sie natürlich nirgends entdecken. Dadurch werde ich Zeit gewinnen. Ich sitze in einer Ecke und halte Ausschau nach Männern, die allein das Restaurant betreten. Ich lese die Speisekarte zweimal von vorn bis hinten. Tagliatelle Carbonara. Seeteufel vom Grill und Garnelenspieße. Tiramisu.
Kurz vor der verabredeten Zeit kommt ein Mann herein. Seine Blicke schweifen durch das Lokal, aber eher beiläufig. Nun, er ist ja auch zu früh dran. Vielleicht rechnet er noch gar nicht mit ihr. Vielleicht ist Carol Ann der Typ, der immer zu spät kommt. Der Mann trägt einen dunklen Anzug, einen Büroanzug. Doch sein Haar ist für den typischen Geschäftsmann eine Spur zu lang, es ist zurückgegelt und ringelt sich über dem Kragen. Manche Menschen lassen sich nicht durch ihre Uniform festlegen, prägen ihr ihren eigenen Stempel auf. Dieser Typ besitzt ganz gewiss einen eigenen Stil. Drücken wir es mal so aus: Ich würde ihn nach dem Tiramisu glatt mit zu mir nach Hause nehmen. So, so, Carol Ann, du stilles Wasser. Ich erhebe mich und stelle mich vor ihn hin.
»Verzeihung«, sage ich, »Sind Sie Doug?«
Er wirkt verwirrt, dann lächelt er. »Äh … nein. Ich bin Ed.«
»Schade«, erwidere ich und mache kehrt.
»Moment mal«, ruft er mir nach, »es ist nur ein Name. Ich kann ihn jederzeit ändern!«
Ich blicke über die Schulter zurück und grinse. Er setzt sich an einen freien Tisch, sucht immer wieder Blickkontakt mit mir. Ich schaue zurück, ein klein wenig länger, als schicklich ist. Es vertreibt mir die Zeit.
Als Doug hereinkommt, weiß ich sofort, dass er es ist. Mit absoluter Sicherheit. Es ist 13.28 Uhr. Du liebe Güte, Carol Ann, wie konntest du nur? Es ist, wie wenn man zu Hause Steak
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