Die verborgenen Bande des Herzens
wandert sein Blick durch das Café, als würde er jetzt erst merken, dass er sich an einem fremden Ort befindet.
»Genauso will ich es haben.«
Er lenkt seinen Blick wieder auf mich, hakt jedoch nicht weiter nach. Irgendwie verstehe ich das, diese mangelnde Neugier. Er ist so cool, genügt sich selbst, braucht keine anderen Menschen. In dieser Beziehung bin ich eher ein Mann als eine Frau. Er hat sich ja nicht einmal die Mühe gemacht nachzufragen, wie es kommt, dass ich mich ganz in der Nähe seines Büros aufhalte, wieso ich zufällig an einem Fensterplatz sitze, wenn er vorbeispaziert. Wenn er mir eine Frage stellt und ich ihm darauf keine Antwort gebe, zuckt er nur mit der Schulter. Typisch Mann, finde ich.
»Heute ist es aber spät geworden bei Ihnen im Büro«, bemerke ich.
»Ach, viel zu tun …«, lautet seine lapidare Antwort.
»Und nicht, weil Sie es hinauszögern wollen, nach Hause zu gehen?«
Er lächelt etwas schief, dann dreht er sich auf seinem Stuhl ein Stück zur Seite, nimmt seine langen Beine unter dem Tisch hervor und streckt sie aus in den Gang.
»Wie läuft es denn so bei Ihnen zu Hause?«, frage ich.
»Nicht so gut.«
Ich warte, dass er das Ganze etwas weiter ausführt, aber das tut er nicht. Stattdessen nimmt er in aller Ruhe einen Schluck von seinem Kaffee und stellt dann mit einem leisen Klirren die Tasse wieder auf den Untersetzer zurück.
»War es das schon?«
»Was denn?«
»Ist das alles, was ich von Ihnen erfahren werde – ›nicht so gut‹.«
Er zuckt die Achseln. »Was gibt es da noch zu sagen?«
»Vielleicht, warum es nicht so gut ist?«
Sein Blick schweift wieder ab. Er beobachtet die Frau hinter der Theke, die ein Stück Schokoladenkuchen aus der Glasvitrine nimmt und es auf einen Teller gibt. Weiche Strähnen honigblonden Haares, die sich aus ihrem Nackenknoten gelöst haben, fallen ihr über die Wangen.
»Ich … anscheinend kann ich einfach nicht …«, hebt er an, zögert. »Ich hasse das Gefühl, dass die anderen im Haus darauf warten, dass ich zur Tür hereinkomme, verstehen Sie? Dass alles von mir abhängt, irgendwie. Ich habe Theresa eingestellt, und sie ist auch eine große Hilfe, aber … ach, ich weiß nicht, wie ich das genau erklären soll. Es ist … es ist, als hätten andere Leute mein Gehirn okkupiert. Ungebetene Gäste, was weiß ich, die deine Küchenschränke leer räumen, alles aufessen, bis nichts mehr für dich übrig bleibt, und dann wieder verschwinden. Aber du weißt, wenn du ihnen das nächste Mal den Rücken zuwendest, kommen sie wieder, sitzen schweigend da, schauen dich erwartungsvoll an.«
»Was erwarten sie denn von Ihnen?«
»Ach, ich weiß es nicht.« Er schiebt ungeduldig seine Kaffeetasse von sich weg. »Zeug. Irgendwelches Zeug. Dinge, um die sich früher immer Carol Ann gekümmert hat, nehme ich an. Kleinigkeiten. Banale Dinge, die viel zu viel Platz in meinem Kopf beanspruchen.«
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Sieben Uhr.
»Sie sollten um diese Zeit bestimmt schon zu Hause sein.«
»Ja, vermutlich schon. Obwohl Theresa heute bis acht Uhr bleibt. Wenigstens brauche ich mich dann ausnahmsweise mal nicht um das Abendessen zu kümmern.«
»Aber Sie wollen trotzdem noch nicht gehen?«
»Nein. Steve wird zu Hause sein. So, wie er manchmal wie aus dem Nichts neben einem auftaucht und dann gleich darauf wieder verschwunden ist, habe ich bisweilen das Gefühl, dass ein Geist im Haus herumschwebt. Und Lily!« Er schüttelt den Kopf. »Lily wird wieder irgendwas Abstruses daherbrabbeln von einem Komplott der Pharmaindustrie, die alte Menschen als Versuchskaninchen missbraucht, und dass ihre Medikamente überhaupt nichts nützen, sondern nur den Pharmakonzernen zu Forschungszwecken dienen. Wahrscheinlich sind es auch gar keine Medikamente für Patienten, die einen Schlaganfall gehabt haben, sondern für Krebskranke, und falls es irgendwelche schrecklichen Nebenwirkungen gibt, wird sie, Lily, nicht einmal mehr der Welt sagen können, welche schlimmen Dinge hier passieren. Denn die Leute werden einfach denken, dass sie und all die anderen armen Opfer einfach wieder einen Schlaganfall gehabt hätten. Sie hat Steve die ganze Geschichte diktiert, damit es schwarz auf weiß vorliegt, falls ihr etwas zustoßen sollte. Verrückt. Und dann wird sie wieder davon anfangen, dass sie Flora besuchen will. Flora ist ihre Schwester, die seit zehn Jahren tot ist …«
»Sie glauben also, dass sie allmählich den Verstand
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