Die verborgenen Bande des Herzens
beständigen Stimmengemurmel der Gäste. Und in der Ecke sitzt Alex, das weiße Hemd klebt feucht an seiner Brust, sodass ein schwacher Schatten dunkler Haare durchschimmert. Seine Anzugjacke hängt über der Lehne des Nachbarstuhls, vor ihm liegt die Zeitung ausgebreitet. Er hat die langen Beine zur Seite ausgestreckt, in den Gang, weil sie nicht bequem unter den Tisch passen. Ich nehme seine Bestellung entgegen, und die Art, wie er mich ansieht, löst eine seltsame leise Panik in meiner Brust aus.
Er wird Stammgast. Philipp, der Kellner, der in der gleichen Schicht mit mir arbeitet, blinzelt mir zu, immer wenn Alex zur Tür hereinkommt.
»Er ist wieder da«, zischt er, und ich fahre erschrocken zusammen, weil Philipp mich jetzt plötzlich am Arm packt.
»Lass das gefälligst!«, sage ich ärgerlich und schlage ihm auf die Hand, aber Philipp grinst bloß.
»Geh schon, bedien du ihn. Das willst du doch.«
»Er sitzt an deinem Tisch.«
»Du kannst ihn haben.«
»Ach, er ist wohl nicht dein Typ?«, frage ich in spöttischem Ton.
»Oh doch, das schon. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nicht sein Typ bin.«
Ich stehe da und bekomme den Mund nicht mehr zu, während Philipp im Weggehen mir noch einmal einen Blick über die Schulter zuwirft und grinst. Ich schätze, das, was ich da gerade erlebt habe, nennt man ein Coming-out.
»Cara?«
Harry schaut mich an.
»Verzeihung, Harry. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gefragt, ob du ihn immer geliebt hast?«
Ich schweige.
Habe ich Alex immer geliebt? Meine Augen brennen von dem pochenden Schmerz in meinen Schläfen. Habe ich Alex immer geliebt?
»Ja«, erwidere ich und staune über den Klang meiner Stimme, doch noch mehr verblüfft mich, was ich da gerade von mir gegeben habe. Stimmt das wirklich? Habe ich Alex immer geliebt? Liebe ich ihn immer noch?
Harry legt mir die Hand auf den Unterarm.
»Es tut mir leid, Cara«, sagt er. »Jemanden zu verlieren ist …«
»Ich habe ihn schon vor langer Zeit verloren«, erwidere ich, bemüht, Harry irgendwie etwas Wahres zu berichten, ohne dass ich die ganze Geschichte offenlegen muss. Harrys Augen blicken verwirrt. Er zögert.
»Ich dachte, er … ich dachte, er ist erst vor Kurzem gestorben.«
»Das Sterben hat sich eine ganze Weile hingezogen«, murmle ich. »Er ist immer wieder gestorben.« Ich sitze nach vorn gebeugt da an dem Tisch, habe den Kopf in beide Hände gestützt, und als ich jetzt Harry anschaue, drehe ich einfach meinen Kopf zur Seite, weil ich nicht die Energie aufbringe, meinen Oberkörper aufzurichten.
»Verzeih, Harry. Das was ich da sage, ergibt keinen Sinn.« Harry zieht die Brauen zusammen, aber schweigt abwartend. Doch was ich sage, entspricht der Wahrheit. Alex ist öfter als einmal gestorben, über einen langen Zeitraum hinweg sind kleine Teile von ihm abgestorben. Wie bei mir eigentlich.
»Harry, als du verheiratet warst, hast du da je deine Frau betrogen?«, frage ich unvermittelt.
Er blickt mich erschrocken an.
»Ich …«, stammelt er. »Also …«
»Es tut mir leid. Ich hätte das nicht fragen dürfen. Vergiss es einfach.« Schweigen breitet sich aus. Dann sagt Harry:
»Einmal. Es war keine richtige Affäre, weil es nur einmal war.«
»Also ein One-Night-Stand, sozusagen?«
»Caroline«, erwidert er. »Es war mit Caroline. Sie hat mich angerufen, etwa fünf Jahre nachdem wir uns getrennt hatten. Ich musste nach London zur Beerdigung eines Verwandten, und da habe ich sie besucht. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und … ach, du meine Güte, es war ein einziges Drama. Meine Jungs waren zu klein, um sie zu verlassen und … es hätte einfach nie passieren dürfen. Patsy …« Er schüttelt den Kopf.
»Hat sie es herausgefunden?«
»Nein, aber ich hatte immer das Gefühl, sie wusste Bescheid.«
»Das stimmt wahrscheinlich auch. Genau wie ich.«
»Alex hat …?
Ich nicke.
»Das tut mir leid, Cara.«
Ich zucke mit den Schultern.
»Wie hast du es erfahren?«
»Er war plötzlich netter zu mir.« Wir beide lächeln, aber auf eine Art, als würden wir über einen Scherz lachen, über den man eigentlich nicht lachen sollte.
»Das heißt nicht …«, sagt Harry mit Bedacht, »das heißt nicht, dass er dich nicht geliebt hat.«
Harry redet fast so, als müsse er sich rechtfertigen. Er kann meinem Blick nicht standhalten. Er bringt Ausreden für Alex vor, aber ich denke, eigentlich versucht er, sich selbst zu verteidigen. Später, als Harry sich bemühte, wieder
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