Die verborgenen Bande des Herzens
mir nie verziehen.«
»Aber es war doch nicht Ihre Schuld …«
»Ich habe sie nicht gerufen. Ihr nicht gesagt, dass Josies Leben am Erlöschen ist.«
»Warum nicht?«
»Ich wusste, sie würde sofort den Arzt holen. Ich wollte nicht, dass Josie noch länger leiden muss.« Die Tränen laufen ihm nun wieder über die Wangen. Er wischt sie fort mit der Hand, in der er das Glas hält, dabei gerät das Glas in Schieflage, und der Whisky schwappt um ein Haar über. »Oder vielleicht wollte ich auch nicht selber länger leiden.«
Eine Träne rinnt ihm über die Wange und fällt auf sein Hemd, und plötzlich bricht er zusammen, schlägt die Hände vors Gesicht, sodass ich kaum etwas verstehe von all dem Zeug, das nun aus ihm herausbricht. Wortfetzen wie Schmerzlinderung und Josies Morphiumpumpe. Ich stehe auf und gehe zu ihm, setze mich auf die Armlehne seines Sessels, lege meine Hand auf seine Schulter. »Okay, Alex, ich denke, wir haben nun genug über Josie geredet.«
Er holt tief Luft. »Ich wollte nicht, dass Josie stirbt. Aber ich wollte auch nicht, dass sie so weiterleben muss. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe.«
Er hebt den Kopf und schaut mich an. »Ach ja?« Er runzelt die Stirn. »Ach ja?«, wiederholt er. Meine Hand liegt noch immer auf seiner Schulter. Ich spüre seine Körperwärme. Und dann passiert etwas Merkwürdiges. Ich nehme plötzlich wahr, wie sich die Atmosphäre im Raum verändert. Wie wenn die Heizung aufgedreht wird und es allmählich wärmer wird. In dieser veränderten Atmosphäre knistert es plötzlich zwischen uns, und Alex spürt es auch, denn er will einen Rückzieher machen, das Knistern leugnen. Aber es ist da. Es ist keine Abfolge, kein separates Ereignis, das nach den Tränen, nach dem Gefühlsausbruch vor ein paar Minuten aufgetreten ist. Es ist nicht so, als würde eine Emotion abgestellt und die nächste aufgedreht werden. Alles hängt irgendwie zusammen. Psychiater wie Hammond hätten sicher ein paar hübsche hochgestochene Erklärungen parat, ich jedoch denke, das Ganze ist wahrscheinlich furchtbar simpel zu deuten. Alex ist völlig aufgewühlt. In diesem Zustand braucht er einfach die Nähe eines anderen Menschen.
»Natürlich verstehe ich das«, sage ich, obwohl ich inzwischen vergessen habe, was genau ich eigentlich verstehen soll. Aber um ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn verstehe, beuge ich mich zu ihm und streiche, beflügelt durch den Alkohol, der durch meine Adern rauscht, langsam, ganz langsam mit meinen Lippen über seine.
32. Kapitel
Carol Ann
A lex hatte anfangs Angst vor Josie. Ich sah es ihm an, denn ich kenne ihn genau, auch wenn Alex da anderer Meinung ist. Er hatte Angst, sie im Arm zu halten, Angst, sie zu lieben. Er hatte Angst, sie würde ihm das Herz stehlen und ihn dann wieder verlassen. Immer wenn er sie aus dem Bett heben musste, hatte man den Eindruck, er hielte ein Päckchen im Arm, das für jemand anderen bestimmt war.
Als Josie sieben Monate alt war, wurde ich krank. Sie war erst wenige Wochen zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich stillte sie weiterhin, obwohl ich Fieber hatte, spürte die kühle milchige Blässe von Josies Wangen an meiner glühenden Haut. Ich sagte zu Alex, ich hätte Angst, ich könnte sie anstecken, und so stand er in jener Nacht zum ersten Mal vor mir auf, als sie weinte. Mein Fieber war noch weiter gestiegen, und ich hörte ihr Weinen nur wie von Ferne, Töne, die anschwollen und wieder zurückwichen, wie Wellen.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte, doch um drei Uhr morgens wachte ich plötzlich auf. Das Fieber war zurückgegangen, aber meine Glieder waren bleischwer und kraftlos. Ich richtete mich ein wenig auf und drehte mein Kissen um, genoss die kühle Baumwolle an meinem Gesicht. Der Platz neben mir war leer. Ich lag einen Moment still da, dann schwang ich langsam die Beine über die Bettkante und setzte mich auf, wartete, dass das Zimmer aufhören würde, sich um mich zu drehen. Das Parkett knarrte laut, als ich nach unten ging und die Wohnzimmertür aufstieß. Alex lag auf dem Boden, auf der Seite, tief schlafend, und neben ihm in ihrem Körbchen Josie. Sein Körper schmiegte sich um das Körbchen, seine Brust drückte gegen das Weidengeflecht, seine Stirn gegen das Kopfteil. Er sah aus wie ein schlafender Löwe, der, auch wenn er ruht, immer auf der Hut ist, jederzeit bereit anzugreifen, wenn Gefahr droht.
Jahre später, als sich herausstellte, dass die Chemotherapie keinen Erfolg
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