Die verborgenen Bande des Herzens
dabei erging. Das war kein Leben mehr für das arme Kind. Und dabei hätte sie es so verdient gehabt zu leben, verstehen Sie? Sie war so ein liebes … liebes … liebes kleines Mädchen. Ich bin daran zerbrochen, mit ansehen zu müssen, dass sie so niedergeschlagen war, so große Schmerzen hatte, dass alles so mühevoll und schwierig für sie war. Das Atmen, das Kämpfen, um am Leben zu bleiben. Ich dachte, Stärke heißt, sie gehen zu lassen, aber später dann, da dachte ich, vielleicht … vielleicht war ich einfach schwach, genau wie Carol Ann gesagt hat.«
»Warum hat sie das gesagt?«
»Sie wollte, dass die Ärzte weiter alles Erdenkliche versuchen. Sie wollte nicht aufgeben. Sie sagte, wenn ich den Kampf nicht mit ansehen könne, solle ich weggehen, Platz machen, und sie, Carol Ann, weiterkämpfen lassen.« Er steht abrupt auf. »Haben Sie noch was zu trinken da?«
»Da drinnen.« Ich weise mit dem Kopf zu einem kleinen Schränkchen unter dem Fenster. »Allerdings ist die Auswahl nicht sehr groß.«
Er findet eine andere Sorte Whisky, von dem noch ein Rest übrig ist, und schenkt sich großzügig ein.
»Möchten Sie auch was?«
Ich schüttle verneinend den Kopf.
»Dann kam dieser Tag, Carol Ann wollte, dass ich mit diesem Arzt rede, und ich sagte Nein.«
»Warum?«
Er zuckt die Achseln, schüttelt den Kopf.
»Ich … ich wollte einfach nicht mehr. Ich konnte es nicht mehr ertragen, mir anzuhören, was … also sagte ich zu Carol Ann, ich hätte zu tun, schob meine Arbeit vor. Und außerdem«, fügt er als Rechtfertigung hinzu, »hätte ich dann mit ihr dort hingehen müssen. Es wurde mir einfach zu viel, dauernd hockten wir zusammen im Krankenhaus herum. Als hätte ich … als wäre ich nicht … ich weiß ja, dass sie Josie neun Monate in ihrem Bauch herumgetragen hat und dass es anders ist für … aber mir hat es auch wehgetan, verstehen Sie? Ich bin anders damit umgegangen als Carol Ann. Ich bin auf meine Art damit umgegangen, und die schien nie … die richtige Art zu sein.«
»Es stand wohl nicht gerade zum Besten zwischen Ihnen beiden in dieser Zeit.«
Er nickt, lässt den Satz jedoch kommentarlos im Raum stehen.
Er legt eine kurze Pause ein, nippt an seinem Glas, dann sagt er: »Sie hat mir die Schuld gegeben. Wegen Josie, meine ich.«
»Warum sollte sie so etwas tun?«
Er zuckt mit den Achseln. »In so einer Zeit … reagiert man nicht vernünftig«, erklärt er. »Man denkt nicht rational. Man tut Dinge, die man … verstehen Sie … die man später bereut. Und sagt Dinge.«
Ich erkenne an dem Zittern in seiner Stimme, dass er kurz davor ist zusammenzubrechen.
»Welche Dinge?«
»Dinge einfach.«
»Es muss furchtbar sein, ein Kind zu verlieren«, sage ich, weil ich ihn unbedingt dazu bringen will weiterzureden. Ich persönlich habe keinen Wunsch nach einem Kind und auch keine Vorstellung, wie es ist, eins zu verlieren, aber ich denke, diese Bemerkung meinerseits ist jetzt angebracht.
Alex nickt. »Es ist so furchtbar falsch. Es ist so … irgendwie unnatürlich. Ein Kind weiß, dass es eines Tages seine Eltern zu Grabe tragen wird. Aber Eltern, die den Tod ihres Kindes erleben müssen …« Er schüttelt den Kopf. Sein Glas ist fast schon wieder leer.
»Bedienen Sie sich«, sage ich und deute mit dem Kopf auf die Whiskyflasche.
Alex steht auf und geht hinüber zum Fenster; versucht, sich zu fassen.
»War es im Anschluss an Josie, als Sie untreu wurden?«
Seine Schultern fallen herunter. »Jetzt geht das wieder los?«, sagt er müde.
»War es nach ihr?«
»Ja.«
»Wie lange danach?«
»Ich weiß es nicht mehr. Spielt es eine Rolle?« Er dreht sich um und lässt sich auf einem Sessel nieder, der möglichst weit entfernt von meinem Platz auf der Couch ist. »Ziemlich bald.«
Ich stehe auf, setze mich an das andere Ende der Couch, ein Bein untergeschlagen, und schaue ihn an.
»Wie bald?«
»Ich habe doch schon gesagt, ich weiß es nicht mehr.«
»Doch, Sie wissen es genau.«
»Etwa zwei Wochen.«
»Sie Schuft, Sie!« Insgeheim muss ich lachen. Sein Opportunismus amüsiert mich.
»Ist das ein beruflicher Kommentar oder ein privater?«
»Beides.«
»Wer war es?«
»Irgendeine Frau.«
»Aha, nun ja, ich dachte mir schon, dass es nicht ein bärtiger türkischer Ringer war. Welche Frau?«
»Eine Frau, die ich durch meine Arbeit kannte.«
»Wie standen Sie zu ihr?«
»Was?«
»Waren Sie in sie verliebt?«
»Oh, ich bitte Sie. Josie war gerade gestorben. Ich habe
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