Die verborgenen Bande des Herzens
wissen Sie, wer Josie war«, sagt Alex, ohne mich anzusehen. Die Tränen strömen ihm übers Gesicht, während er erzählt. Ich empfinde Unbehagen, ehrlich gesagt. Ich kann nicht damit umgehen, wenn Männer weinen. Natürlich weiß ich, wie ich mich in solch einer Situation zu verhalten habe. Männer haben das Recht, ihre Gefühle zu zeigen. Männer dürfen auch mal schwach sein. Dennoch kommt es mir ein bisschen tuntig vor. Ich kann mir nicht helfen.
Ich habe meinen Vater nur ein einziges Mal weinen sehen. Er bot einen ziemlich erbärmlichen Anblick, muss ich sagen – ein ein Meter fünfundachtzig großer, flennender Fettkloß. Er hatte gerade wieder einmal meine Mutter geschlagen, doch diesmal war sie bewusstlos am Boden liegen geblieben, lag da wie ein blutleerer Leichnam, die Lippen leicht geöffnet, über dem linken Auge ein Mordsbluterguss. Und da stand er nun über sie gebeugt und flennte wie ein kleines Kind und brabbelte auf einmal etwas daher, wie sehr er sie liebe, während ihm der Rotz aus der Nase lief. Wahrscheinlich war es seine Alkoholfahne, sein widerlich stinkender Atem, der sie wieder aus der Bewusstlosigkeit riss.
»Es tut mir so leid, Mary«, heulte er, bedeckte ihr Gesicht mit ekligen sabbernden Küssen. »Jesus, Maria, es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, mein Schatz. Ich hab das nicht gewollt. Mary, Mary, hörst du mich? Mary, ich hab das nicht gewollt, mein Schatz. Mary, ich liebe dich, Mary. Wirklich. Ich schwöre bei Gott, ich werde nie wieder Hand an dich legen.«
Oftmals betrachtete ich meine Mutter, die dunklen Ringe unter ihren Augen, ihr nervöses Zucken, und schwor mir, niemals zuzulassen, dass er so etwas aus mir machte. Ich habe nie wieder eine Frau erlebt, die sich so bereitwillig kleinmachte, sich in ein Nichts verwandelte, wie meine Mutter.
Alex’ Tränen sind anders als die meines Vaters. Es sind stumme Tränen, die, während sie ihm langsam über die Wangen rinnen, versiegen. Hin und wieder hebt er die Hand und wischt mit den Fingerspitzen über beide Augen.
»Das tut mir leid«, sage ich.
Alex wirft mir einen kurzen, fast abschätzigen Blick zu.
»Ja«, erwidert er gedehnt, als wüsste er genau, dass es nur eine Plattitüde ist.
Was soll es sonst sein? Was erwartet man von mir? Soll ich jetzt etwa in mein Taschentuch schniefen? Ich kannte die Kleine doch gar nicht, oder?
Das Wohnzimmer meiner Mietwohnung wirkt auf mich wie eine eigene abgeschlossene Welt, in der lediglich wir beide, Alex und ich, existieren. Als wir vorhin hereinkamen, hatte ich nur die Stehlampe eingeschaltet, sodass der Raum in ein weiches, fast intimes Licht gehüllt war. In der Einrichtung dominieren die Farben Rot, Cremeweiß und Schwarz, und jetzt, in dem Licht der Stehlampe, wirkt das Rot warm und freundlich. Es war nicht schwierig, Alex zum Reden zu bringen. Er war reif dafür. Eine einzige Frage, und schon war er bereit, sein Innerstes nach außen zu kehren.
Die Flasche Whisky auf dem Couchtisch hat ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen.
»Wie lange, sagten Sie, ist es her, dass Josie gestorben ist?«
»Fünf Jahre.« Seine Augen schweifen in die Ferne, er hängt seinen Gedanken nach, weicht meinem Blick aus.
»Hilft es, darüber zu reden?«
»Eigentlich nicht.«
Zunächst verspüre ich Erleichterung. Solche Gespräche über das Innenleben sind nicht mein Ding. Als Polizistin kann ich damit umgehen, aber nicht als Privatperson. Doch Alex und ich, wir beide sind längst über die geschäftsmäßige Ebene hinaus. Andererseits halte ich Alex nicht für den Typ Mann, der plötzlich sein Herz ausschüttet, und deshalb weiß ich, ich muss diese Chance nützen, denn so leicht komme ich nicht mehr an Informationen heran.
»Wie ist Carol Ann damit fertiggeworden, als Josie starb?«
Alex fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe, versucht, sich zu fassen.
»Ziemlich schlecht.«
»War sie bestürzt?«
Er bedenkt mich mit einem vernichtenden Blick. »Was glauben Sie denn?«
»Ich schätze, Sie mussten der Starke sein.«
Er saugt an der Innenseite seiner Wange, sodass von außen eine Delle zu sehen ist.
»Ich dachte damals, ich wäre stark … Ich dachte …« Er unterbricht sich mitten im Satz.
»Was dachten Sie?«
»Josie hatte solche Schmerzen. Ich habe es nicht ausgehalten, sie so zu sehen. Die Ärzte gaben ihr alle möglichen neuen Medikamente, aber nichts schlug an. Ich wollte nicht, dass sie es weiter versuchten, denn ich konnte ja sehen, wie es ihr
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