Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
UNTERHIELTEN sich noch länger mit den West-Berliner Studenten, die Jens für seinen Mut bewunderten. Sie fragten ihn, ob er denn keinen Ärger an der Uni befürchte, wenn das rauskomme? Jens antwortete:
Lehnt ihr euch nicht gegen Normen und Grenzen bei euch auf? Ich will das auch. Am liebsten, indem ich Dinge mache, die mir ein Gefühl von Freiheit geben. Es gibt so viel zu entdecken, ich kann und will mich nicht mit der Enge in diesem Land abfinden.
Es war spät geworden. Die Besucher aus West-Berlin mussten eilig zum Grenzübergang aufbrechen. Sie durften dort nicht später als zwei Uhr nachts erscheinen. Doch die Verabschiedung im Hof zog sich eine ganze Weile hin, es gab immer wieder etwas zu erzählen oder zu fragen. Ein Fenster klappte auf. Marie sah nach oben.
Es war der Hauswart. Er schimpfte, ob sie denn immer noch nicht genug hätten? Und schlug das Fenster heftig wieder zu.
Jens nahm eine junge Frau aus der Gruppe noch kurz beiseite, es war Anke. Sie standen eine Weile an der Hauswand und sprachen leise miteinander. Schließlich waren irgendwann alle weg. Jens und Marie lagen sich, noch ganz aufgekratzt von dem schönen Abend, in den Armen. Hand in Hand gingen sie die Stufen hoch, in ihre gemeinsame Wohnung.
Zur selben Zeit saß einer der Gäste des Diavortrags in einer kaum möblierten Wohnung am Strausberger Platz. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Tonbandgerät. Es lief und zeichnete auf, was er seinem Führungsoffizier über die ungenehmigte Versammlung im Berliner Zimmer berichten würde.
Kapitel 5 Die Invalidenstraß e
Eine Woche später wollte Anke mit dem Auto von West- nach Ost-Berlin. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, ihr Golf wurde langsamer. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Grenzübergang Invalidenstraße. Das Schild am Straßenrand mit dem roten Ausrufezeichen nahm sie gerade noch aus den Augenwinkeln wahr:
0,0 Promille in der DDR und Berlin (Ost)!
Dann verschwand sie mit dem Auto in einer schmalen Öffnung der Berliner Mauer. Links und rechts starrten Soldaten mit Ferngläsern von ihren Wachtürmen. Anke lenkte das Auto behutsam im Zickzack an Panzersperren und Betonblöcken vorbei.
Ganz oben auf den steinernen Barrikaden blühten blaue Stiefmütterchen, adrett in Reih und Glied gepflanzt. Ehe sie weiter über den absurden Blumenschmuck auf der militärisch gesicherten Anlage nachdenken konnte, war sie an einem überdachten Barackenhäuschen angekommen. Hier war der Fensterschlitz, vor dem jeder Reisende exakt anhalten musste. Durch die kleine Luke reichte sie dem Grenzbeamten ihren West-Berliner Personalausweis, auf dem ihr in diesem Moment das seltsame Wort behelfsmäßig auffiel.
Um nach Ost-Berlin einreisen zu können, hatte sie sich schon ein paar Tage vorher ein grünes Besuchervisum besorgen müssen, bei einem der Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in West-Berlin. Für den Zoll lag außerdem noch ein kleines, weißes Formular dem Visum bei. Deklaration mitgeführter Devisen und Gegenstände . Die Felder darin hatte sie einfach leer gelassen.
ES DAUERTE. Der Uniformierte war in seinem engen Kabuff aufgestanden und im Inneren der Baracke verschwunden. Anke blickte durch die Frontscheibe auf die wartenden Autos vor ihr. Sie kannte die Prozedur am Grenzübergang schon von etlichen Besuchen. An späten Vormittagen, wie jetzt, hatte es immer kaum mehr als eine viertel oder halbe Stunde gedauert.
Gleich würde sie gegen Zahlung der vorgeschriebenen 25 D-Mark Mindestumtausch ihren Ausweis und das Visum durch die Luke zurückbekommen. Dann ein paar Meter bis zu einem weißen Strich vorfahren, dort stehen bleiben, den Motor erneut abschalten und ohne auszusteigen auf die Zollbeamten warten.
Sie würden wie immer als Erstes fragen, ob sie Devisen, Schusswaffen oder Munition bei sich habe, und sie würde wie immer mit Nein antworten. Dann würde ein Beamter ihre Beifahrertür öffnen, sie bitten, das Handschuhfach aufzuklappen, und dort nach Musikkassetten suchen.
Vielleicht würde er auch noch die beiden Sonnenblenden herunterklappen, auf die Sitzpolster drücken, den Aschenbecher herausnehmen oder die Türverkleidung anheben.
Und wenn schon. Sie hatte schließlich den Wagen ganz leer geräumt, die Rückbank und den Kofferraum von Druckerzeugnissen und Müll befreit und auch kontrolliert, dass nicht noch eine Musikkassette, deren Mitnahme verboten war, im Rekorder am Autoradio steckte.
Sie freute sich auf den Tag in Ost-Berlin. Es war strahlender Sonnenschein. Das
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