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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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dann weiter ins Landesinnere Richtung Kaukasus.
    Bis Swanetien wollten wir eigentlich per Anhalter. Doch wir hatten Angst vor den russischen GAI -Stationen an den Straßen. Das ist eine besondere Verkehrspolizei, und die kontrolliert alles und jeden. Einmal mussten wir behaupten, wir seien aus Estland, um durchzukommen. Wegen angeblicher Verstöße muss man ihnen Geld geben, natürlich ohne eine Quittung zu kriegen. Jeder Russe weiß, dass sie so ihr schlechtes Gehalt aufbessern. Weil die Jungs von der GAI überall sind, ist es verdammt schwierig, nicht irgendwann aufzufliegen. Wir haben deshalb nur Busse genommen, die werden selten kontrolliert.
    Er zeigte nun eine ganze Reihe von Landschaftsbildern. Wilde Flüsse, steinige Felder, immer höhere Berge. Sie legten unerkannt die dreihundert Kilometer bis nach Swanetien zurück. Das war ein damals kaum von Ausländern besuchtes autonomes Gebiet in Georgien, in dem viele schwer zugängliche Bergdörfer lagen. Jens hatte dort nur wenige Bilder gemacht.
    Hier sind Gehöfte, deren Bewohner seit Generationen mit ihren Nachbarn in Blutfehde stehen. Die Bauernhöfe sind eingezäunt. Oft gibt es Tore mit Schießscharten oder riesige Wehrtürme, von denen sie früher heißes Wasser auf Angreifer runtergießen konnten. Über diese wehrhafte Gegend sind wir dann in sieben Tagesmärschen von Süden her bis zum Kaukasushauptkamm, ins Elbrusgebiet von Karbadino-Balkarien, vorgedrungen.
    Es war erstaunlich ruhig im Raum, die Gäste hörten gebannt zu. Keiner von ihnen kannte die vielen Namen der Dörfer, Städte und Berge, die Jens im Laufe des Abends aufzählte.
    Und als wir endlich an der letzten Busstation in Terskol am Fuß des Elbrus ausstiegen, konnten wir jemanden überreden, uns noch über Terskol hinaus einen ganzen Tagesmarsch weit mit dem Lkw mitzunehmen. Reinhard und ich saßen auf der Ladefläche, bis uns uns der Fahrer bei einem Fluss am Einstieg in den Elbrus absetzte. Wir mussten noch fünf Tage durch ein Tal aufwärts laufen, bis wir den Hauptkamm erreichten. Dort sahen wir Bauern ihr Vieh über den schmalen Pass treiben. Wir hatten es geschafft, wir waren mittendrin im Kaukasus!
    Das nächste Bild löste erneut Heiterkeit im Publikum aus. Es zeigte Jens mit seinem überdimensionalen Rucksack, der weit über seinen Kopf hinausragte.
    Der wog zweiundfünfzig Kilo!
    Dann steckte Jens einige Fotos von Kaiseradlern und Bartgeiern, auf die sie in den Bergen gestoßen waren, in den Projektor.
    Sein Freund musste die Tour nach sechs Wochen beenden und kehrte zurück nach Leipzig. Jens hatte mehr Zeit und noch ein wichtiges Ziel. Er wollte unbedingt ein Biosphärenreservat im West-Kaukasus besuchen, um dort zu fotografieren.
    Ich durfte in diesem riesigen und menschenleeren Gebiet oberhalb von Krasnaja Poljana bei den Kontrollen der Wildhüter mitreiten und blieb als Gast in ihren Hütten. In dieser Wildnis haben wir ganze Abende lang auf Russisch über Tschernobyl, Greenpeace und sinnvolle Naturschutzstrategien diskutiert. Als sie von der Möglichkeit hörten, Dächer zu begrünen, haben sie es gleich am nächsten Tag an einer ihrer Hütten ausprobiert.
    Die drei waren ursprünglich keine Wildhüter, sondern russische Intellektuelle, die aus dem System ausgebrochen waren. Ein Arzt aus Leningrad, ein Physiker aus Moskau, ein Lehrer aus dem Kaukasus. Sie hatten irgendwann Anfang der achtziger Jahre beschlossen: Wir wollen nicht mehr, wir gehen in die Natur, in die Wälder. Ihre Arbeitskollegen hätten daraufhin bloß verständnislos mit den Köpfen geschüttelt.
    Mir imponierte, dass die drei auf so viel verzichtet hatten, um ein einfaches Leben zu führen. Jetzt backen sie mit ihren Familien ihr Brot einmal in der Woche einfach selbst. Die Abwärme vom Brotbacken wird gleich für die Sauna genutzt. Männer und Frauen gingen getrennt. Danach sprangen wir in einen direkt vor der Saunahütte fließenden eiskalten Gebirgsbach, den sie mit Felssteinen zu einer kleinen Badestelle aufgestaut hatten.
    Es war das letzte Bild, das er zeigte. Es wurde wieder lebendig um ihn herum, und alle begannen durcheinanderzureden. Natürlich gab es noch Fragen an Jens. Wie groß denn der Ärger an der Grenze sei, wenn man wieder zurück in die DDR einreise? Wo sie geschlafen hätten? Wann er seine nächste Tour mache und wohin?
    Dazu sagte Jens nichts Konkretes. Er fand, mit dem, was er über illegales Reisen in der Sowjetunion erzählt hatte, sei er schon weit genug gegangen.
    MARIE UND JENS

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