Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
AUF. Es trat nur noch einer der beiden Zöllner ein. Er setzte sich an den Schreibtisch, spannte ein Formular in die Schreibmaschine, legte Ankes Ausweis daneben und begann mit zwei Fingern zu tippen.
Der Tonträger, der unter dem Beifahrersitz versteckt war, wird damit eingezogen. Hier unterschreiben!
Sie kniff die Lippen zusammen. Wie bitte? Was sollte das jetzt? Hatte sie vielleicht doch beim Aufräumen eine Musikkassette übersehen? Aber es ging doch eigentlich um die Landkarten?
Sie unterschrieb.
Die Karten können Sie behalten. Sie dürfen die Einreise in das Hoheitsgebiet der DDR jetzt fortsetzen.
Anke verstand nun gar nichts mehr. Sie griff nach den zusammengefalteten Karten, verließ mit dem Uniformierten den Container und stieg in ihr Auto.
Mehr als eine Stunde war vergangen.
DER LETZTE SCHLAGBAUM in Richtung Osten hob sich langsam. Anke starrte auf die Stiefmütterchen auf der letzten Betonsperre. Hier blühten sie gelb. Erleichtert lenkte sie den Wagen aus dem Kontrollpunkt heraus, Richtung Prenzlauer Berg.
Sie fuhr die Invalidenstraße geradeaus weiter, dann über die für Berliner Verhältnisse recht steile Veteranenstraße hinauf bis zum Zionskirchplatz. In der Fehrbelliner Straße rollte sie langsam an den Bordstein. Es machte ihr keine Mühe, einen Parkplatz zu finden. Ein paar Trabis in hellblauen und türkisfarbenen Pastelltönen standen am Rand, dahinter ein halb beladener Kohlenwagen, etwas weiter weg parkte ein unter grauer Plastikfolie verpacktes, nicht erkennbares Vehikel mit platten Reifen, das der Besitzer noch nicht aus dem Winterschlaf geholt hatte.
Es war Mittagszeit und nur wenige Leute waren unterwegs. Jemand zog einen Bollerwagen, auf dem Umzugsgut geladen war, laut lärmend über das Kopfsteinpflaster. Sie wartete noch einen Moment im Auto und drehte sich um. Hinter ihr war kein Fahrzeug mehr den Berg hinaufgekommen. Sie stieg erleichtert aus und ging ein paar Schritte bis zum Weinbergpark, einem kleinen, grünen Hügel zwischen den ersten Wohnhäusern hier in Prenzlauer Berg.
Auf einer Mauer saßen ein paar rauchende Jugendliche mit schwarzen Nieten-Lederjacken. Anke betrachtete die Punks. Einige hatten ihre Haare hochgekämmt, mithilfe von Eiweiß, Zucker und Bier sträubten sie sich stachelig von ihren Köpfen. Im Westteil der Stadt waren Punks eher eine Seltenheit geworden.
Die Zweiundzwanzigjährige besuchte seit einigen Jahren regelmäßig Ost-Berlin. Das machten nicht viele in ihrem Alter. Angefangen hatte es, als eine Freundin aus Bielefeld sie einmal zu einem Ost-West-Treffen der Studentengemeinde in der Invalidenstraße mitgenommen hatte.
Die Leute, die sie dort kennenlernte und die sie inzwischen auch privat traf, hatten ihr von Anfang an gefallen. Obwohl sie in einem ihr fremden Land lebten, lasen sie oft die gleichen Bücher, hörten die gleiche Musik. Ihre Gedanken und Träume drehten sich um dieselbe Frage: Wie soll man leben? Nicht so konsumorientiert wie die meisten in der Gesellschaft, sagten sie. Gerade wegen der Knappheit an Waren verbrachten viele Menschen einen Großteil ihrer Zeit mit der Jagd nach raren Konsumgütern. Viel zu viel arbeiten, Karriere machen, immer mehr Geld verdienen und immer mehr Dinge anhäufen, die man nicht wirklich braucht, darin sahen sie nicht ihre Zukunft. Das verband die Gruppe.
Jens war einer, der nicht nur redete. Bei einem der Treffen war er es gewesen, der spontan einen gemeinsamen Fahrradausflug vorgeschlagen und dann auch perfekt organisiert hatte. Sie hatten einen ganzen Tag bis in den Abend zusammengesessen und über die Verbesserung der Welt geredet. Da kam von Jens plötzlich der Vorschlag:
Wisst ihr was? Nächstes Wochenende haben wir wahrscheinlich gutes Wetter. Ich besorg uns Fahrräder und wir fahren raus aus der Stadt. Mit der S-Bahn bis Bernau, von dort durch die Naturschutzgebiete der Schorfheide und dann im großen Bogen wieder zurück. Den Weg kenne ich. Euer Tagesvisum gilt zwar nur für Berlin. Wenn ihr aber auf den Ost-Rädern sitzt und keine auffälligen West-Klamotten tragt, kommt keiner auf die Idee, euch zu kontrollieren. Ihr seid auch vor Mitternacht wieder pünktlich über die Grenze.
Genau so war es dann auch. Am Ende des Tages waren alle erschöpft, aber bester Stimmung.
ANKE DACHTE an den Frühling vor einem Jahr zurück. Auf der Insel Rügen hatte Jens zum 1. Mai die Schlüssel für das Ralswieker Hexenhaus besorgt, ein kleines reetgedecktes, sehr einfaches Selbstversorgerhaus am
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