Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
frische Grün der Bäume und der knallblaue Himmel verdrängten die leichte Beklemmung, die Anke an der Grenze immer verspürte. Sie wollte direkt nach Prenzlauer Berg fahren, dort würde sie Jens wahrscheinlich in den Räumen der Zionskirchgemeinde treffen.
Fahren Sie bitte rechts ran!
Sie hatte nicht mitbekommen, wie einer der Beamten von hinten an ihr offenes Seitenfenster getreten war. Ohne zu antworten, ließ sie den Wagen anspringen, fuhr ein kurzes Stück im Schritttempo auf eine Art Seitenstreifen und hielt dort.
Bitte aussteigen und den Kofferraum öffnen!
Als sie wie befohlen die Kofferraumklappe öffnete, begann ihr Herz schneller zu schlagen.
Sie musste zurücktreten. Ein Beamter stellte sich jetzt direkt neben sie, der andere beugte sich über den Kofferraum und nestelte am Verbandskasten herum. Das kleine Kästchen mit Ersatzlampen schob er beiseite, anschließend widmete er sich dem Abschleppseil, dem Werkzeug und einer Ledertasche mit Starterkabel. Dann hob er die Abdeckung zum Reservereifen hoch.
Darunter lag eine flache Tasche mit Schneeketten. Der Uniformierte nahm sie und griff hinein. Anke konnte nicht hinsehen.
Der Beamte drehte sich um, er gab das, was er in der Tasche entdeckt hatte, wortlos an seinen Kollegen weiter.
EIN PAAR MINUTEN später saß die West-Berliner Studentin in einem fensterlosen Blechcontainer, den sie bisher nie wahrgenommen hatte. Die Neonlampen kamen ihr viel zu hell vor. Die Wände waren mit glänzendem Holzimitat verkleidet. Es roch nach Desinfektionsmittel.
Der Zollbeamte hatte zwei Landkarten auseinandergefaltet und übereinander auf einen Tisch gelegt. Jede Karte war mindestens eineinhalb Meter lang und breit, die Ränder ragten auf allen Seiten weit über die Tischkanten hinaus. Es handelte sich um topografische Karten der Mongolei. Sie zeigten aber auch detailliert den Verlauf der mongolisch-sowjetischen Grenze sowie die Grenzgebiete zwischen der Sowjetunion und Afghanistan, China, Indien, Iran und Pakistan. Obenauf lag die Reliefkarte, die besonders anschaulich die Bergketten, Wüsten und Ebenen wiedergab. Die höchsten Berge waren schneebedeckt eingezeichnet.
Sie blickte auf der Karte hin und her, weil sie nicht wagte, den Grenzposten anzusehen. Sie wollte ihn anlügen, die Sachen habe wohl ihr Vater im Auto vergessen.
Es waren keine gewöhnlichen Landkarten. Sie stammten von der US -Armee, Maßstab 1: 500000 , und waren sehr genau gearbeitet. Auf dem Rand stand: Prepared and published by the Defense Mapping Agency Aerospace Center, St. Louis Air Force Station Missouri. Das Impressum und die amerikanische Legende machten die Landkarten hier, an der Grenze zwischen Ost und West, zu einem brisanten Gegenstand.
Für wen wollten Sie die Karten in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik einführen?
Anke zuckte vorsichtig mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
Wen wollen Sie denn jetzt besuchen?
Sie schluckte und zögerte mit der Antwort.
In Ihrem Antrag auf Einreise steht als Reiseziel ein gewisser Jens … Richtig?
Der zweite Mann stand noch hinter ihr. Vielleicht, dachte sie, wäre es jetzt besser, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. Ja.
Gut , sagte der Uniformierte und schwieg eine Weile. Er zog eine Schublade auf und kramte darin herum. Die Zeit zu dehnen gehörte wohl zur Zeremonie. Dann stand er auf.
Sie warten hier!
Er packte die Karten zusammen und verschwand mit seinem Kollegen. Anke blieb allein im Container zurück. Nichts geschah. Es dauerte.
Wie oft hatte sie schon erfolgreich etwas Verbotenes über die Grenze geschmuggelt! Broschüren, Bücher, Schallplatten. Nie war sie ertappt worden. Sie kam sich unvorsichtig vor, weil sie angenommen hatte, die Schneeketten seien ein gutes Versteck für die Karten. Jetzt würde sie zurückfahren müssen, vielleicht würde man sie auch nie wieder nach Ost-Berlin lassen. Hatte nicht jemand anderes aus der Studentengemeinde auch schon eine Einreisesperre?
Die Karten waren auf jeden Fall weg, und ihr Besuch bei Jens hatte sich erledigt. Die Tasche mit den Schneeketten war eindeutig das falsche Versteck gewesen. Gut, man wusste nie, was am Übergang passierte. Aber so intensiv wie heute hatten die Grenzbeamten noch nie in ihrem Kofferraum gewühlt.
Sie machte sich Vorwürfe, wie naiv sie doch war, wie leichtsinnig. Nicht weil ihr das mit den Karten passiert war, sondern weil sie so blöd gewesen war, bei dieser Einreise Jens als Ziel anzugeben. Was für eine Dummheit.
DIE TÜR FLOG
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