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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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Ortsrand. Da war die ganze Gruppe mit Jens an die Ostsee gefahren. Damals hatte das strahlend blaue Maiwetter einen bitteren Beigeschmack, wegen der Explosion im russischen Atomkraftwerk von Tschernobyl. Sie hatten immer wieder die Verhältnisse in Deutschland-Ost und Deutschland-West und die Berichterstattung verglichen:
    Was geschieht bei uns, was geschieht bei euch? Wenn der Sand auf den Kinderspielplätzen West-Berlins verseucht ist und ausgewechselt wird, warum geschieht nicht dasselbe in Ost-Berlin? Wo gibt es überhaupt Atomreaktoren auf dem Gebiet der DDR ? Wie stark strahlt es in der Umgebung der Uranhalden in Sachsen und Thüringen, die den Rohstoff für die sowjetischen Atombomben liefern? Was wisst ihr über Zwischenfälle?
    Im Westen war kurz nach dem Reaktorunglück ein Umweltministerium gegründet worden. Im Osten gab es ein solches Ministerium zwar schon länger, aber an eine öffentliche Debatte über die Risiken der Atomkraft war nicht zu denken.
    Vor einigen Monaten waren Mitglieder von Greenpeace zum Demonstrieren nach Ost-Berlin eingereist. Sie hatten vor dem Ministerium für Umweltschutz gegen die Praxis der ostdeutschen Kalibergwerke protestiert, tonnenweise Salz in die Werra einzuleiten. Sofort waren Ordnungshüter zur Stelle gewesen, aber die Aktion war gefilmt und im Fernsehen gezeigt worden.
    Vielleicht müssen wir in Zukunft öfter gemeinsam demonstrieren?
    Anke hatte mitbekommen, dass einige Leute aus den ostdeutschen Umweltgruppen irgendwann im Frühjahr eine Fahrraddemonstration durch die Ost-Berliner Innenstadt planten. Ohne Transparente und Schilder, aber jemand hatte die Idee, sich aus Protest gegen die Luftverschmutzung einfach Taschentücher vor Mund und Nase zu binden. Das würde jeder verstehen. Sie wäre gern dabei, sicher würde sie noch erfahren, wann genau es losginge.
    Außerdem stand der erste Jahrestag des Kernkraftunglücks von Tschernobyl bevor. Ob es dazu irgendwelche Aktionen geben würde? Selbst im Westen wurde allerdings die Kernkraft nicht grundsätzlich infrage gestellt. Dort hatten die Parteien, die weiter an der Atomenergie und an einem Wirtschaftswachstum ohne Grenzen festhielten, sogar erneut die Wahlen gewonnen. Manchmal verstand Anke die Menschen in ihrem eigenen Land nicht.
    Sie hatte sich in die Sonne gesetzt und für einen Moment die Augen geschlossen. Aus der Ecke der Punks wurde es lauter. Zwei Volkspolizisten gingen auf die Gruppe zu. Aus ihrer Mitte flog eine Flasche in Richtung Papierkorb. Sie verfehlte ihr Ziel und zerbarst kurz vor einem Polizisten. Anke stand auf und ging zurück zum Zionskirchplatz. Sie war sich nun ganz sicher, seit dem Grenzübergang nicht verfolgt worden zu sein.
    In den Gemeinderäumen der Kirche war sie mit Jens verabredet. Dort gab es ein neues Projekt. Einige Leute hatten eine Art Untergrundbibliothek aufgebaut. Sie nannten es kurz UB – Umweltbibliothek . Auch Anke und die anderen Studenten aus den westdeutschen Partnergemeinden hatten dafür schon Bücher über die Grenze geschmuggelt.
    Die Bibliothek war im vergangenen Herbst im Keller des Vorderhauses eröffnet worden, wo es genug Platz für Tische und Regale gab, um verbotene und unerwünschte Bücher – nicht nur zu Umweltfragen – frei zugänglich aufzustellen. Man konnte sie unkompliziert ausleihen oder sich dort hinsetzen und lesen. Im Hinterhaus hatte die Gemeinde außerdem eine Galerie mit Café eingerichtet, in der Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen und Lesungen veranstaltet wurden. So etwas war nur unter dem Schutz der evangelischen Kirche denkbar – und ob der Staat das auf Dauer tolerieren würde, war ungewiss.
    In der Bibliothek war auch all das zusammengetragen worden, was die neu gegründeten Gruppen überall im Land selbst produziert hatten. Eigene Ökologie-Broschüren, selbst gedruckte Zeitschriften und erste von kritischen Experten erstellte Studien zur Landwirtschaft, zum Uranabbau im Erzgebirge oder zu den Folgen der Umweltverschmutzung durch die Chemieindustrie in und um Leipzig.
    All dieses in der Umweltbibliothek versammelte Wissen konnte nun auch besser als je zuvor von hier aus im ganzen Land verbreitet werden. Für Verhältnisse, in denen sonst alles vom Staat und seinen Behörden bis ins Kleinste kontrolliert und genehmigt wurde, ein ziemlich gewagtes Projekt. Aber wo, wenn nicht hier, in Prenzlauer Berg?
    JENS STAND in einer Ecke des größten Raumes, in ein Gespräch vertieft. Vor ihm wanderten Carlo und Wolfgang, zwei bärtige junge

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