Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
gefüllte Obst- und Gemüsekisten standen.
Um nicht schon an der Kleidung auf den ersten Blick als Touristen erkannt zu werden, besorgten sich Marie und Jens weiße Malerhosen, die sie in einem großen Einmachtopf in der Küche bräunlich einfärbten. Viele Kleidungsstücke konnten sie nicht einpacken, denn im Rucksack war der Platz knapp bemessen. Für das Übernachten im Freien war eine derbe grüne Regenplane viel wichtiger. Als Moskitoschutz nahmen sie von einer alten Gardine zwei große Stücke mit.
Jens wollte noch einmal seine Eltern sprechen. Er fuhr zu ihnen nach Leipzig und erzählte, dass er mit Marie wohl länger weg sein würde, dass sie in wenigen Tagen Richtung Mongolei aufbrächen und sie sich wie immer keine Sorgen machen müssten. Er würde ihnen Postkarten schreiben.
Passt bloß auf euch beide auf , sagte ihm sein Vater zum Abschied.
JENS HATTE über Bergsteigerfreunde einen neuen Rucksack in der Tschechoslowakei besorgt. Er hatte sie im Kaukasus kennengelernt und war eigens zu ihnen nach Liberec gefahren. Denn sie hatten eine Schusternähmaschine und – noch wichtiger – robusten Stoff für die Außenhaut. Tagelang saßen sie zusammen und nähten. Der Rucksack war schlicht, hatte aber zu wenige Außentaschen. In den letzten Stunden vor der Abfahrt des Zuges eilte Marie deshalb mit Jens’ Fahrrad am Nachmittag noch nach Berlin-Mitte zu Conny, die eine Nähmaschine besaß. Sie wusste nicht, ob sie ihre Freundin antreffen würde.
Marie war erleichtert, als die Tür aufging. Es roch nach Ölfarbe, Conny war gerade dabei, ein Stillleben zu malen.
Die beiden setzten sich in Connys Küche, von der aus man einen Blick in einen Hinterhof der Auguststraße hatte, und nähten abnehmbare Seitentaschen für die beiden Rucksäcke von Jens und Marie. Die Arbeit war aufwendig, das zog sich hin.
Conny studierte Malerei an der Kunsthochschule und war die treue Begleiterin Maries bei früheren Tramptouren gewesen. Sie machte sich ein wenig lustig, wie viel Gepäck Jens und Marie nun mitnehmen wollten.
In Bulgarien hatten wir kein Zelt mit, nur unsere Schlafsäcke, etwas Kleidung und unseren Zeichenblock. Weißt Du noch, Marie, wie leicht und schnell wir immer mitgenommen wurden?
Marie lachte.
Und wie schwer es dann aber war, die Fahrer wieder loszuwerden?
Conny fragte ihre Freundin, wie es mit Jens werden würde. Marie erzählte, wie genau er die Reise vorbereitet hatte und dass sie sich mit ihm sicher fühle.
Du kennst mich, Conny, ich lasse mich am liebsten treiben, er dagegen weiß, was er finden will.
Als es dämmerte, eilte Marie zurück in die Rykestraße. Als sie die Wohnung betrat, war Jens damit beschäftigt, die Dinge, die sie für die Reise brauchten, auf dem Fußboden zu sammeln: Kugelschreiberminen, die selbst gemachten Brustbeutel, die braune Plastetasse, Plastikbeutel, die als Regenschutz gedacht waren, Milchpulver für die »Bergsteigersuppe« aus Getreideflocken, Nussschokolade, Trockenobst und leere, ausgewaschene Milchtüten. In den Tüten wollten sie unterwegs gekaufte Lebensmittel aufbewahren. Jens hatte außerdem jede Menge Rollfilme gekauft: 144 Schwarz-Weiß- und 100 Farbdiafilme, das reichte für mindestens 3000 Aufnahmen. Seine Fotoausrüstung kam in eine eigene Tasche. Sie allein war zwölf Kilo schwer.
DIE SELBST GEFERTIGTEN TASCHEN waren angenäht, alle Sachen eingepackt, es war dunkel, als sie ihre Rucksäcke schulterten.
Marie trat noch einmal vor den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie sah eine entschlossene, abenteuerlustige junge Frau. Sie war nicht mehr das Mädchen, das gerade aus dem Vorort in der großen Stadt angekommen ist. Vielleicht waren ihr Berlin, der Prenzlauer Berg, die Kunsthochschule sogar schon zu klein geworden. Sie hatte ein gutes Gefühl, als sie von allem Abschied nahm.
Jens hatte die Wohnung aufgeräumt und stellte sich hinter sie. Die Augen des jungen Paares trafen sich im Spiegel. Marie drehte sich um und küsste Jens.
Dann verließen die beiden ihre Wohnung, das Haus und die Rykestraße. Ihr Blick fiel noch einmal auf den Wasserturm. Durch die leeren Straßen machten sie sich zu Fuß auf den Weg zum Berliner Ostbahnhof.
Es hatte geregnet, auf den Gehwegen spiegelten sich die Gaslaternen in den großen Pfützen. Ihr Bild löste sich auf, wenn Marie mit ihren neuen Wanderschuhen übermütig hineintrat.
KURZ VOR MITTERNACHT stiegen sie in den Nachtexpress nach Moskau. Eine Stunde später waren sie bereits an der Grenze zu Polen. Der
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