Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Zug blieb stehen, Abteiltüren wurden aufgezogen, die erste Kontrolle.
Marie war aufgeregt. Wie Jens reichte sie ihren Reisepass einem Uniformierten, der vor seinem Bauch eine Art kleinen Klappkoffer trug. Von ihrem Platz aus konnte sie nur sehen, dass er lange in einem dicken Buch vor- und zurückblätterte, das in dem Koffer lag, die aufgeschlagenen Reisepässe vor sich.
Marie und Jens wurden aufgefordert, das Abteil zu verlassen. Die ostdeutschen Grenzbeamten wollten ihr Gepäck durchsuchen. Einer blieb mit den beiden im Gang des Waggons stehen, zwei andere widmeten sich im Abteil ihren Rucksäcken. Es dauerte. Marie und Jens konnten nicht sehen, was die Männer mit ihrem Gepäck machten.
Dann erhielten sie endlich ihre Pässe zurück. Die Beamten stiegen aus, und der Zug setzte sich in Bewegung, um kurz darauf wieder anzuhalten.
Die polnische Grenzkontrolle ging erheblich schneller vor sich. Przepraszam, paszport – Verzeihen Sie, Passkontrolle . Die Beamten sahen nur kurz in die Reisepässe und wünschten eine gute Fahrt.
Marie und Jens konnten in dieser Nacht nicht einschlafen. Die Fahrt durch Polen dauerte fast einen Tag.
In Brest kamen sie an die russische Grenze.
Graniza, graniza! Hier gab es den obligatorischen Spurwechsel, weil die russischen Eisenbahngleise achteinhalb Zentimeter breiter sind als die polnischen und mitteleuropäischen Gleise. Arbeiter in verschmierter Kluft begannen routiniert mit dem Wechseln der Räder: Alle Waggons wurden der Reihe nach angehoben, dann die Radsätze herausgeschoben und durch russische Fahrgestelle ersetzt. Das Aufeinanderschlagen schwerer Metallteile und lautes Quietschen vermischten sich mit den Rufen der Arbeiter für Marie zu einem Klang, der stärker als die erste Etappe, die hinter ihnen lag, deutlich machte, dass es jetzt weit weg gehen würde.
AM NÄCHSTEN ABEND kamen sie übermüdet im Zentrum von Moskau an, am Bahnhof »Moskva Belorusskaja«. Sie liefen über den Roten Platz. Die Kremltürme wurden von starken Scheinwerfern angestrahlt und leuchteten bunt gegen den schwarzen Himmel.
Jens hatte die Adresse eines jungen Russen, den er bei einer früheren Reise kennengelernt hatte. Bei ihm konnten sie übernachten. Jens kannte einige Studenten aus Moskau, doch er hatte sich nie von ihnen einladen lassen, um eine Reiseerlaubnis für Russland zu bekommen. Denn er hätte mit einer solchen Einladung Moskau nicht verlassen dürfen. Hätte man ihn außerhalb der Stadt oder gar am Baikalsee aufgegriffen, wären sein Bekannter und dessen Familie verhört und sicher bestraft worden. Das schien ihm zu riskant, er wollte andere nicht gefährden, bloß weil es ihn zum Baikalsee zog.
Marie legte sich in einem Zimmer der Wohnung auf das Lager, das sie und Jens mit ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden hergerichtet hatten. Sie hörte, gedämpft durch die Tür, wie sich Jens mit seinem Bekannten und dessen Freunden auf Russisch unterhielt und wie sie ihn immer wieder zum Trinken aufforderten. Er versuchte, ihnen zu erklären, dass der neue Präsident Michail Gorbatschow doch gerade gesagt habe, man solle nicht mehr so viel Wodka trinken. Ob es ihm gelang, seine Freunde vom neuen politischen Kurs zu überzeugen, hörte Marie nicht mehr, denn sie schlief bei lautstarker Heiterkeit im Nebenzimmer irgendwann ein.
Früh am nächsten Morgen fuhren sie in einem überfüllten Bus zum Flughafen. Sie stellten sich in die Schlange der Wartenden und gaben ihr Gepäck auf. Die Dame am Abfertigungsschalter reichte ihnen nach kurzer Überprüfung der Reisedokumente die Bordkarten, auch die Zoll- und Passkontrolle dauerte nicht lange.
Marie wunderte sich, wie einfach plötzlich das Reisen war, wenn man die richtigen Papiere besaß. Ein kleiner Zettel, und das war’s, dachte sie. Schon bestiegen sie das Flugzeug und hoben ab.
Nach kurzer Zeit durchbrachen sie die Wolkendecke und die Morgensonne strahlte in die Kabine hinein. Marie und Jens legten ihre Hände ineinander. Sie redeten kaum miteinander, schweigend betrachteten sie unter sich die Flüsse und Bergketten der Sowjetunion, die scheinbar endlosen Wälder und riesigen Seen.
Als sie wieder ein Gebirge überflogen, erzählte Jens, was er bei einer Bergtour zwei Jahre zuvor erlebt hatte. Beim Abstieg von einem Sechstausender gab es einen Wetterumschwung, er war allein, wegen Durchfalls stark geschwächt und musste sich an einem Bergsee in viertausend Meter Höhe unter einen überhängenden Felsen zurückziehen, um sich
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