Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
und Jens wiederholte das mongolische Wort für Brot, bei ihm klang es nur ganz anders.
Russisch ist die Sprache der Machthaber im Land, hatte Jens sich überlegt, weshalb er in Berlin angefangen hatte, mongolische Wörter zu lernen. Jedes Wort, das er nun aus seinem Gedächtnis hervorkramen konnte, löste Begeisterung bei den Jungen aus. Sie waren vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt.
Sie stellten sich vor, indem sie mit dem Zeigefinger auf sich zeigten und ihre Namen sagten: Bajar und Bahadur.
Die beiden freuten sich darüber, dass Marie Interesse an ihren Pferden zeigte. Bahadur, der ältere Junge mit ganz kurz geschnittenen Haaren, legte Marie das Ende seiner Zügel in die Hand. Marie nahm das Angebot aufzusteigen sofort an.
Der mongolische Holzsattel war gewöhnungsbedürftig, und Marie hatte schon lange nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Die Jungen feuerten sie an: Urgscha! – Vorwärts!
Marie trabte eine große Runde und kam lachend zurück.
Inzwischen hatte Bajar sein Pferd Jens überlassen. Der saß mit nacktem Oberkörper ohne Sattel auf dem Rücken des kräftigen kleinen Pferds. Jens hielt mit einer Hand die Zügel und streckte den anderen Arm nach vorn, zeigte in die Steppe und rief zu Marie: Urgscha!
Beide ritten nebeneinander los, geradeaus in die Weite.
Bahadur hatte unterdessen Maries provisorische Angel entdeckt, besah sie sich genauer, brachte einen aus dem Uferschlamm gegrabenen Wurm am Haken an und hielt die Angel ins Wasser. Dazu blieb er nicht wie Marie am Ufer stehen, sondern watete mit seinen Filzlatschen in den Bach hinein. Bajar, der Jüngere, ging ebenfalls ins Wasser und tat so, als ob er den Fischen stromabwärts den Weg versperren würde. Rasch entwickelte sich nach der Rückkehr vom Ausritt ein Spiel mit Jens, der ihm ins Wasser gefolgt war. Am Ende war immer noch kein Fisch gefangen, nur Bajar hatte viel Wasser in die Nase bekommen und schnappte nach Luft. Er schnaubte in den Ärmel seines Hemdes. Marie musste kichern. Sie kam sich fast ein bisschen blöd vor, dass sie nach einem Taschentuch gesucht hatte.
Am nächsten Morgen kehrten die Jungen zurück, diesmal mit ihren Kühen. Sie molken eine von ihnen und schenkten Marie die frische Milch. Jens bereitete zum ersten Mal in seinem Leben auf seinem Kocher mongolischen Milchtee zu. Er hatte den vorwiegend aus dünnen Zweigen und kaum aus Teeblättern gepressten Block Ziegeltee in Ulan Bator gekauft. Nun mischte er den Sud mit etwas Butter, Salz und der frischen Milch.
Sie tranken ihn gemeinsam zum Abschied.
Bevor die beiden Kinder verschwanden und die Kühe forttrieben, verspritzten sie die letzten Schlucke Tee in Richtung Jens und Marie, Zelt und Rucksäcke. Jens verstand nur eines der Worte: »Glück«.
PER ANHALTER erreichten Marie und Jens bald darauf Murun. Sie waren nun sechshundert Kilometer von Ulan Bator entfernt. Murun bestand, wie die meisten Siedlungen im Norden der Mongolei, aus einer Ansammlung von Holzhäusern und einigen wenigen Steingebäuden, in denen eine Schule oder eine staatliche Behörde untergebracht war. Außerdem gab es hier noch eine Zapfsäule, an der man Diesel tanken konnte, und zwei kleine Geschäfte.
Während der Lkw-Fahrer nachtankte, kauften Marie und Jens Butter, Eier, Backpflaumen, Käse und Marmelade ein. Dann war es nur noch ein kleines Stück bis zur Geologenbasis.
Die Basis entpuppte sich als sowjetische Bohrstation, die ganz in der Nähe des Ortes auf einem Hügel lag. Die Geologen suchten hier ausschließlich nach Bodenschätzen.
Als Marie und Jens eintrafen, hatten die Männer gerade eine Steinprobe aus ihrem Bohrloch an die Oberfläche geholt. Die beiden Russen erkannten in Jens, dem Biologen, einen, wenn auch entfernten, wissenschaftlichen Verwandten und führten ihn und Marie durch ihre Anlage. Anhand des Bohrkerns erklärten sie ihren Besuchern den Aufbau des Gebirges. Was er davon verstehen konnte, übersetzte Jens für Marie.
Die Geologen fanden es nicht besonders verwunderlich, dass ein deutscher Forscher, ein Ornithologe, sich auf eine so weite Reise gemacht hatte, um seine wissenschaftlichen Kenntnisse zu vertiefen. Auch sie lebten hier in der Wildnis, Tausende von Kilometern von ihren Familien entfernt, und fühlten sich als Pioniere.
AM NÄCHSTEN MORGEN ging Jens in Murun zum Natschalnik. Diesen Posten hatten die Sowjets in jedem Distrikt eingeführt, es handelte sich um eine Art Bürgermeister oder Ortsvorsteher. Nicht unbedingt der beste, sondern aus
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