Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
den kahlen Bergen im Hintergrund. Weit verstreut im Grün leuchteten die weißen Jurten der Nomaden, der einzigen Bewohner, die selbst in der Gobi noch genug zum Leben fanden.
Der Fluss, der dort unten türkisfarben schimmerte, mündete in den Süßwassersee Char-Us-Nuur, den schwarzen Steppensee, der besonders groß und dabei sehr flach war, kaum tiefer als vier Meter. Der See hatte Jens schon lange fasziniert. Hier machten Vögel Hunderter verschiedener Arten Rast, wenn sie nach Süden flogen. Ein Traum für Ornithologen. Er hatte bei seinen Besuchen in der Stadtbibliothek einen Artikel über den See in der »Großen Sowjetischen Enzyklopädie« gefunden. Der See war ein unter Wissenschaftlern weltweit berühmtes Naturschutzgebiet. Nun flog er selbst darüber hinweg, bald würde er in dessen Nähe landen.
Die Stadt Chowd war umrahmt von den schneebedeckten Höhen des Altaigebirges, ein Schnittpunkt uralter Handelswege. In diesem Teil der Mongolei regnete es öfter mal. Die Kleinstadt empfing sie mit viel Grün, es gab Bäume, Sträucher und Felder, auf denen Zuckermelonen angebaut wurden. Die meisten der gut zehntausend Bewohner hatten im Ort ihre Jurten eng zusammengestellt und lebten immer noch von der Viehzucht. Manche hatten Steinmauern um das kleine Grundstück errichtet, auf dem ihre Jurte stand, andere lebten in mehrstöckigen Steinbauten. In einem einfachen Flachbau gab es auch eine kleine Universität.
Sie fanden den Ort überschaubar und suchten die Adresse, die sich Jens notiert hatte, in einem kleinen Viertel mit Wohnblocks. Tanjus Wohnung war dennoch schwer zu finden. Marie wunderte sich, dass es nirgendwo Namen auf den Klingelschildern gab, lediglich Nummern. Sie lachte beim Gedanken, dass Nomaden und Klingelknöpfe ja auch schwer zueinanderpassten.
Als Jens einen Mann ansprach und den Namen sagte, wusste der sofort, wo der junge Mongole lebte.
Tanju freute sich darüber, Jens wiederzusehen. Er hatte zwei Jahre lang Geologie und Tiefbohrung in der DDR studiert. Damals hatte er Jens auf der Rückreise in seine mongolische Heimat getroffen und den bärtigen deutschen Studenten gleich eingeladen, seine Sippe kennenzulernen. Vielleicht, meinte Tanju, könnte man zusammen in die Berge des Hoch-Altai steigen.
Tanju hatte in Halle recht gut Deutsch gelernt und war froh, die fremde Sprache wieder einmal sprechen zu können.
Sie machten einen Streifzug durch die Stadt. Auf dem Markt fielen Marie die vielen Stände der Melonen- und Gemüseverkäufer auf. Sie hatte gehört, dass die Mongolen nur Fleisch und niemals Gemüse essen. Tanju sagte ihr, dass die Händler Kasachen seien, für die der Anbau von Gemüse üblich sei.
Sie haben keine Nomadentradition wie wir. Ackerbau ist nicht die Sache der Tuwa, meines Stammes. Wir sind Viehzüchter, das liegt auch an unseren religiösen Traditionen. Wir haben Respekt vor der Mutter Erde. Sie darf nicht mit dem Pflug oder der Hacke verletzt werden. Nicht mal meine Schuhspitze soll den Boden beschädigen, darum die hochgebogenen Stiefelspitzen. Und deshalb schaufeln wir auch für unsere Toten keine Gräber.
Hier in Chowd ist aber alles etwas anders als sonst in der Mongolei, hier lebt eine Mischung verschiedener Völker, und wir kommen alle gut miteinander aus.
Sie kauften eine Wassermelone, setzten sich in den Schatten eines Baumes und zerteilten sie.
Marie wollte mehr über die Tuwa wissen. Tanju führte sie zu einer Ausstellung in der Hauptstraße, die über die zehn Volksstämme im Distrikt von Chowd informierte. Jens staunte, dass die Zugehörigkeit zu einem Stamm sogar in den Personalausweisen vermerkt wurde. Marie interessierte sich für die alten Musikinstrumente der Nomaden, Geigen, die wie ein Cello zwischen die Beine geklemmt werden, mit einem langen Hals, dessen Ende ein aus Holz geschnitzter Pferdekopf zierte. Nach dem Besuch drängelte Tanju, sie hätten genug Zeit in der Stadt verbracht, er wolle ihnen endlich seine Familie vorstellen.
Meine Eltern leben noch ganz traditionell in ihrer Jurte etwas außerhalb der Stadt in der Steppe. Dort gibt es auch noch mehr Verwandte, einige sind Pferdezüchter, andere haben Schafherden. Sie werden sich freuen, wenn ich so ungewöhnliche Gäste mitbringe.
Ein Freund Tanjus fuhr sie mit einem uralten Kleintransporter in Richtung Berge hinaus. Marie und Jens schauten von der Ladefläche aus zu, wie Chowd kleiner und kleiner wurde.
Ihr Wagen war schon von weitem bemerkt worden und Tanjus Verwandte hatten die
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