Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
gefüllt mit Hammelfleisch, Plätzchen aus getrocknetem Quark und Brot aus Weizenmehl, das in einer Pfanne mit Fett knusprig ausgebacken worden war. Die Tante knetete einen Teig, den sie flach auswalzte und in schmale Streifen schnitt. Sie kamen als Nudeln in die Suppe mit dem fetten Fleisch.
Zu trinken gab es dazu Airag, vergorene Stutenmilch, ein milchiges, wässriges Getränk, säuerlich und kribbelnd, mit dem Alkoholgehalt von Starkbier. Das machte sich in ihren Beinen bemerkbar, als Jens und Marie schwerfällig aufstanden, um noch vor der Dämmerung ihr Zelt aufzubauen. Die jüngsten Nomadenkinder begleiteten sie und sahen zu, wie sie ihre Schlafstätte errichteten.
Als sie in die Jurte zurückkamen, war ein neuer Besucher erschienen. Sein Motorrad hatte er draußen abgestellt und drinnen den Platz neben dem Hausherrn eingenommen. Er war mit Tee, Tabak und Pfeife begrüßt worden. Alle schauten auf den Hausherrn und den anderen Mann. Auch die Kinder spielten nicht mehr herum, sondern saßen still und beobachteten die Szene.
Der Hausherr lächelte, aber ganz offensichtlich gab es ein Problem. Marie und Jens verstanden nicht, worum es ging. Doch nicht etwa um sie? Jens verstand nur einzelne Worte, aber die fielen immer wieder: Heur german – zwei Deutsche.
Tanju erklärte ihnen leise, der Besucher sei der Chef des Sumons, eine Art Gemeindevorsteher, der – von den Behörden eingesetzt – für die in dieser Gegend lebenden Nomaden zuständig sei. Er war gekommen, weil er gehört habe, es gebe Besuch von Ausländern, die sich nicht angemeldet hätten.
Die Augen von Sumonchef und Hausherr richteten sich beim Sprechen auch immer wieder auf Marie und Jens. Die beiden merkten, wie eine Spannung in ihnen hochstieg, die sie lange nicht mehr gefühlt hatten. Sie hatten beinahe vergessen, wie es zu Hause gewesen war, wenn dort ein Vertreter der Obrigkeit auftauchte. Aber sie mussten sich in diesem Moment nicht selbst verteidigen, Jens musste keine Geschichte erfinden. Der Hausherr führte die Verhandlung, und selbst wenn sie ihn nicht verstanden, so sahen sie ihn doch schmunzeln und spürten seine Ruhe und Unbeirrtheit.
Ab und zu übersetzte ihnen Tanju etwas vom Gespräch.
Der Sumonchef forderte Tanjus Vater auf, die Ausländer fortzuschicken, doch der Vater schüttelte den Kopf. Er wartete ab, bis eine der Frauen Tee nachgeschenkt hatte.
Dann fragte er den örtlichen Vertreter der Staatsmacht:
Wem gehört die Jurte, in der du mit uns Tee trinkst?
Er antwortete selbst.
Das ist meine Jurte! Und ich allein bestimme, wer bleibt und wer geht!
Der Sumonchef gab sich noch nicht geschlagen.
Jeder Besucher muss vorher gemeldet werden, so ist nun mal die Vorschrift.
Der Hausherr schmunzelte erneut und zeigte auf das Loch in der Mitte der Jurte, wo man ein kleines Stück vom Himmel sehen konnte.
Der Abend ist doch schon angebrochen, und morgen ist bestimmt immer noch ein guter Tag für die Anmeldung.
So ging es eine Weile hin und her, die Auseinandersetzung war ein Kräftemessen zwischen den beiden Männern.
Um die Situation zu entspannen, holte Marie aus dem Zelt die Visa und Ausweise. Jetzt mischten sich die beiden in das Gespräch ein, zeigten dem Sumonchef ihre Papiere und versprachen, sich morgen zu melden.
Damit war der von den Behörden eingesetzte Aufpasser entlastet. Er rauchte noch eine letzte Pfeife mit dem Hausherrn, bevor er mit seinem Motorrad in die Nacht davonfuhr. Marie und Jens bekamen frisch gebrühten Tee nachgeschenkt.
Ihnen war klar, dass nicht jeder sich angesichts eines Vertreters der Obrigkeit so selbstbewusst verhielt wie ihr heutiger Gastgeber, der unangemeldete Besucher in die Jurte seiner Familie einlud, mit Tee und Essen bewirtete und ihnen erlaubte, die Nacht dort zu verbringen. Tanju freute sich, dass sich die nomadische Unabhängigkeit der Tuwa durchgesetzt hatte.
Solch ein Verhalten hätte ich mir öfter von Leuten bei uns daheim gewünscht, sagte Jens später im Zelt zu Marie.
Sich nicht immer gängeln lassen, wenn die Macht kleinlich ausgeübt wird. Mehr Mut gegenüber selbst ernannten Autoritäten. Ich kann jedenfalls nicht vergessen, wie selbst der Professor, der für mich ein Vorbild war und der mich und meine Art, freier zu studieren, wirklich schätzte, im entscheidenden Moment geschwiegen und sich nicht für mich eingesetzt hat.
Marie antwortete, sie habe die Menschen in der DDR auch anders erlebt.
Weißt du noch, als ein Polizist meine Freundin Steffi und mich in
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