Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
zum Bahnhof.
Es gab wieder keine Fahrkarten.
Kommen Sie morgen wieder!
So suchte auch er sich einen Platz zum Übernachten im Wald. Als er am Berghang umherlief, sah Jens, dass hinter der Kaserne Kampfflugzeuge standen. Aber er konnte keine Start- und Landebahn entdecken. Die Maschinen starteten und landeten offenbar senkrecht und verschwanden im Nichts. Jens entdeckte gut getarnte, halb in den Felsen gebaute Flugzeughangars.
Er hatte völlig vergessen, dass der Grenzort auf seiner Liste von Orten stand, die für Ausländer verboten waren.
Ihn beschlich das Gefühl, dass er hier, so nahe der Militärbasis am Rande der russischen Grenzstadt, in eine dumme Lage geraten war. Er hatte schließlich jede Menge Filme im Rucksack und wollte nicht als Spion verhaftet werden.
Jens zog sich tiefer in den Wald zurück und verbrachte eine unruhige Nacht, in der er immer wieder wach wurde, sich umsah und ins Dunkle horchte.
UM KEINE KONTROLLE zu riskieren, schlich er morgens vorsichtig zum Bahnhof, kurz bevor der nächste Zug eintraf. Er trug die Kleider, die ihm einst Bergsteiger aus Moskau empfohlen hatten, die er auf seiner Tour durch den Kaukasus kennengelernt hatte. Sie waren mit ihm in einen Laden gegangen und hatten ihm eine grau-grüne Hose mit passender Jacke gekauft.
Damit läufst du rum wie jeder Russe auf dem Land!
Seinen kleinen Beutel hatte er mit dem gleichen groben, grau-grünen Stoff selbst zusammengenäht.
Er fiel niemandem in Nauschki auf.
Erst nach einer weiteren Nacht im Wald klappte es. Er bekam die nötigen Fahr- und Platzkarten und durfte in den Zug steigen.
Als der Zug in den Bahnhof von Ulan Bator einfuhr, schaute Jens aus dem Fenster nach Marie. Er sah sie nicht.
Marie allerdings entdeckte ihn sofort. Sie fielen sich in die Arme und eilten zur Gepäckaufbewahrung. Der Zug würde für eine Weile in Ulan Bator halten.
Marie hatte an jedem Tag des Wartens den Wald verlassen, war zum Bahnhof gegangen und hatte die Gebühren für das Gepäck immer wieder nachgezahlt. Jens war beeindruckt.
Ihn schockierte das Verschwinden des Reisegeldes, doch würde sich das sicher irgendwie ausgleichen lassen, ein paar Dollar und Rubel besaß er ja noch. Schlimmstenfalls müssten sie vielleicht einige ihrer Sachen verkaufen.
Sie hatten noch Zeit, bis der Zug abfuhr. Im Restaurant fanden sie Platz an einem Tisch, an dem zwei junge Leute aus der Schweiz saßen, Urs und Christian. Sie gehörten zu einer Gruppe, die China besucht hatte, und waren nun auf der Rückreise.
Sie kamen ins Gespräch, und Urs schenkte Jens seinen Reiseführer für China und zeigte ihm eine Liste am Ende des Buches mit den wichtigsten Redewendungen und Fragen auf Englisch und Chinesisch. Diese Seiten hätten sie den Chinesen hingehalten, mit den Fingern auf die Sätze gezeigt und sich damit gut durchschlagen können.
Weit herumgekommen seien sie allerdings nicht, erzählten die Schweizer. In China waren nur wenige Städte für ausländische Besucher geöffnet. Um von einem dieser Orte zum nächsten zu gelangen, rieten sie Marie und Jens, sollten sie am besten das Flugzeug benutzen.
Zum Abschied legten die Schweizer zusammen und schenkten den beiden ihre restlichen chinesischen Münzen und Geldscheine. Jens notierte sich ihre Adressen.
MARIE UND JENS hatten »hard seat«-Tickets gekauft, für die billigste Klasse in chinesischen Zügen, und saßen in einem voll besetzten Großraumwagen der Transmongolischen Eisenbahn.
Kinder lärmten, mongolische Männer rauchten, chinesische Frauen redeten mit ihren hohen Stimmen laut durcheinander bis tief in die Nacht.
Es war schon weit nach Mitternacht, als der Schaffner die Pässe aller Reisenden einsammelte. Dann verlangsamte sich die Fahrt, die Bremsen quietschten. Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen.
Im Waggon herrschte Stille, einige Fenster wurden geöffnet, von draußen schrillten aus blechernen Lautsprechern chinesische Revolutionslieder. Sie waren an der Grenzstation angekommen.
China!
Der flache Betonbau lag völlig einsam in der Steppe. Überall an dem Gebäude leuchteten bunte Glühbirnen in die Nacht. Die Lampen am Rand des Daches blinkten unentwegt.
Wie beim Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz, sagte Marie.
Sämtliche Passagiere wurden aufgefordert auszusteigen, der Zug wurde für etwa zwei Stunden abgeschlossen, denn nun wurde für das chinesische Schienennetz die Spurweite wieder gewechselt, zurück vom russischen zum europäisch-nordamerikanischen Maß, das auch hier
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