Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
üblich war.
Chinesische Grenzbeamte in blauer Uniform standen in Gruppen auf dem Bahnsteig. An einem Schalter konnte man Geld wechseln, Jens tauschte seine letzten Dollar und Rubel. In einem Warteraum wurden Getränke verkauft, sogar Cola war im Angebot.
Marie und Jens unterhielten sich mit zwei Reisenden aus Dänemark, die mit ihren beiden Kindern unterwegs waren. Von China aus wollten sie nach Japan weiter. Sie hatten noch ein halbes Jahr frei. Jens schrieb sich ihre Namen und die Anschrift in Kopenhagen auf.
Ein West-Berliner Lehrer hatte beim Einsammeln der Papiere durch den Schaffner ihre Reisepässe gesehen und darüber gestaunt. Er wisse Bescheid, meinte er zu ihnen.
Worüber?, wollte Jens wissen.
Ihr seid hier doch nicht als Staatsgäste, oder?
Marie sah ihn frech an.
Und du? Bestimmt als Agent des BND , oder?
Sie lachten alle drei. Dann wurden die Passagiere aufgefordert, wieder einzusteigen, sie erhielten vom Waggonschaffner ihre Pässe zurück, der blinkende Bahnhof verschwand in der Finsternis, und die Fahrt ging weiter, in den Morgen hinein.
Jens beugte sich zu Marie. Seine Augen strahlten.
Wir haben es bis nach China geschafft!
Marie sah aus dem Fenster, aber der Blick lohnte sich nicht. Außer Telegrafenmasten neben den Gleisen war da immer noch nichts als die leere, steinige Steppe.
IN HOHHOT, der nächsten größeren Stadt, stiegen sie aus. Hohhot war die Hauptstadt der Inneren Mongolei, die nur noch wenig mit der von ihnen bereisten Mongolei zu tun hatte. In Wahrheit handelte es sich mittlerweile um eine chinesische Provinz. Die kommunistischen Machthaber in Peking hatten Millionen von Chinesen hier angesiedelt, die Mongolen waren zu einer Minderheit im eigenen Land geworden.
Die meisten Touristen, die mit der Transsibirischen Eisenbahn kamen, fuhren weiter bis Peking. Nach Hohhot verirrte sich kaum jemand. Am Bahnhof sahen sie fast nur Chinesen. Neugierig gingen Marie und Jens zu Fuß durch die Stadt. Sie stießen auf einen der zahlreichen buddhistischen Tempel, den jahrhundertealten Fünf-Pagoden-Tempel.
Was die Zentralregierung in Peking der Stadt im fernen Nordwesten des Landes angetan hatte, erschreckte die beiden. Hohhot lag in einem langgestreckten Tal. Vom Zentrum aus sahen sie die schwarzen Rauchwolken des Kraftwerks und der Fabriken am Stadtrand, die bis über die Wohnhäuser wehten.
In einer Straße waren gerade mehrere Lastwagen mit dicken, grünen Melonen entladen worden, die auf dem Boden zu Pyramiden aufgetürmt und zum Verkauf angeboten wurden. Daneben lag ein riesiger Berg Zwiebeln und ein Haufen dunkler Kartoffeln.
Kartoffeln hatten sie in China nicht erwartet.
Als sie in eine Gasse einbogen, sahen sie vor jedem Hauseingang einen aus Ziegelsteinen gemauerten Ofen. In die kleinen Häuser, in denen Großfamilien zusammenwohnten, passte kein Ofen, die Leute kochten im Freien.
Marie dachte an die Weite der mongolischen Steppe. Hier in China lebten die Menschen eng beieinander, es gab in dem großen Land zu wenig Platz für die vielen Menschen, zu wenig fruchtbares Land, um sie zu ernähren. Deshalb hatte die Regierung die Einkindpolitik eingeführt, die sie mit drakonischen Maßnahmen durchsetzte. Paare, so alt wie Jens und Marie, durften nur ein Kind bekommen, wenn die Danwei, ihre Arbeitseinheit, ihren Antrag genehmigte. Eltern, die nach dem einen Kind noch ein weiteres in die Welt setzten, wurden bestraft. Das reichte vom Streichen des Kindergeldes bis zum Verlust der Wohnung.
Jens und Marie schauten neugierig in die Häuser, in manchen stand ein Fernseher, in dem zu ihrem Erstaunen Zeichentrickfilme als Abendunterhaltung liefen.
Marie freute sich, als sie etwas anderes entdeckte. Vor den Häusern hingen zusammengerollte Bambusblätter. Darin gefangen lebten Grillen, deren Zirpen in unterschiedlichen Tonlagen durch das gerollte Blatt wie von einem Grammofontrichter enorm verstärkt wurde. Sobald Jens und Marie sich die lebendige Musikquelle aus der Nähe anschauen wollten, verstummten die Grillen, fingen aber sofort wieder an, wenn sie sich entfernten. Der Gesang verfolgte sie in jeder Gasse, in die sie einbogen.
Nützlicher für die Bewohner des Viertels waren die Hühner, die jeweils mit einer Schnur am Bein vor den Häusern festgebunden waren. Ihre Eier gehörten zu jeder Mahlzeit. Ein älterer Chinese rührte auf dem offenen Feuer in einem großen Topf. Als er die beiden Ausländer sah, fischte er eine gefüllte Teigtasche aus der Brühe, bot sie ihnen an
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