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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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eng geknüpfte Spinnweben, fand Marie. Jens fotografierte.
    DAS NÄCHSTE SCHIFF fuhr am Abend. Es gab Fahrscheine für fünf Preisklassen. Jens kaufte für umgerechnet zwölf Ost-Mark zwei Vierte-Klasse-Tickets von Chongqing bis Janjing, mit denen sie fast eine Woche den Fluss entlangfahren konnten. Übernachtung an Bord inklusive, Unterbrechungen der Fahrt so oft sie wollten.
    Über einen langen Steg drängten Menschen auf das Schiff. Auf ihrem Vierte-Klasse-Deck ohne Fenster gab es zum Schlafen nur eng stehende Holzgestelle, Stockbetten mit dünnen Reismatten, je zwei übereinander. Marie schaute sich zum Vergleich in der fünften Klasse um und sah dort selbst schwangere Mütter mit ihren Kindern auf dem nackten Holzboden sitzen.
    Die wenigen Europäer und die wohlhabenderen Chinesen hatten erste oder zweite Klasse gebucht, die Decks lagen oben, von dort hatte man eine schöne Aussicht, Kellner boten Getränke und Essen an. Tagsüber hielten sich Marie und Jens dort oben auf, das ging ohne Probleme, denn keiner der Chinesen konnte sich vorstellen, dass ein Ausländer tief unten im Schiffsbauch mitfuhr. So sahen sie China von seiner Hauptschlagader aus. Der Jangtsekiang ist nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste Fluss der Welt, 6400 Kilometer zieht er sich vom Hochland in Tibet ostwärts durch China, las Marie im Reiseführer, den ihnen der Schweizer geschenkt hatte.
    Das Wasser, das ihr Schiff durchpflügte, war tiefbraun, und es schwamm allerlei Müll und Treibgut darin. Am Ufer lagen Holzdschunken mit runden Bambusdächern, und für schwere Transporte gab es Flöße, die mithilfe aufgeblasener Schweinehäute im Wasser stabilisiert wurden.
    Sie kamen an kleineren und größeren Ansiedlungen vorbei. Je nach Größe der Orte, in denen sie vor Anker gingen, fuhr ihr Schiff manchmal erst nach Stunden weiter. Zeit genug für Erkundungsgänge.
    Die genaue Aufenthaltsdauer war für Jens und Marie jedoch nicht in Erfahrung zu bringen. Es gab zwar ein Schild, auf der die Abfahrtszeit stand – doch sie konnten es nicht lesen. Englisch oder Russisch sprach hier keiner, es war nahezu aussichtslos, danach zu fragen. Bevor das Schiff ablegte, ließ es ein Hupsignal ertönen – ein erstes, um alle an Bord zu rufen, ein zweites unmittelbar vor dem Ablegen. Es war ratsam, sich nicht allzu weit zu entfernen. Anfangs trauten sich beide kaum, das Schiff aus den Augen zu lassen. Danach wurden sie mutiger.
    Bei einem dieser Ausflüge gerieten sie in den Schichtwechsel einer Fabrik. Plötzlich war die Straße vor ihnen voller Menschen. Es war kein Durchkommen. Das erste Signal ertönte. Marie griff nach Jens’ Arm.
    Das Schiff fährt weg! Unser ganzes Gepäck ist an Bord!
    Sie suchten nach einer Lücke in der Kette von Fahrrädern, die ihnen den Rückweg zum Schiff versperrte. Da ertönte das zweite Signal. Marie stolperte, Jens hielt sie fest. Endlich ließ der Druck der Menge nach, sie erreichten den Kai. Das Schiff war bereits ein großes Stück von der Kaimauer entfernt. Marie riss sich los und rannte hinterher.
    Halt! Wir müssen noch mit! Halt!
    Sie winkte und rief. Vergeblich.
    Wir haben nichts mehr, nichts!
    Wir haben doch unser Geld dabei, sagte Jens, unsere Pässe und die Kamera.
    Marie und Jens überlegten, wie sie das Schiff einholen könnten. Sie rannten los, suchten die Kais ab nach einem der kleinen Passagierboote, die sie auf dem Fluss gesehen hatten. Schließlich hatten sie Glück. Ein Stück flussabwärts stand eines dieser Boote abfahrbereit. Sie bezahlten für die Fahrt und gingen an Bord. Nach zwei Stunden sahen sie, noch weit vor sich, ihr Schiff. Eine Stunde später hatten sie es überholt. Vom Deck ihres Bootes aus sahen sie hinüber. Hoffentlich ist unser Gepäck noch da, meinte Marie.
    Sie verließen bei der nächsten Gelegenheit das Boot und warteten auf ihr Schiff. Ob an dieser Stelle überhaupt ein Halt vorgesehen war, wussten sie nicht, so waren sie sehr erleichtert, als es tatsächlich anlegte. Während die Passagiere von Bord strömten, zwängten sich Marie und Jens in umgekehrter Richtung durch die Menge die Gangway hinauf. Sie liefen gleich unter Deck, bis in die vierte Klasse, wo sie ihre Rucksäcke unversehrt vorfanden.
    Danach waren sie etwas vorsichtiger mit ihren Streifzügen an Land, doch völlig aufgeben wollten sie sie nicht. Zu spannend war es, was sie dort sahen. In einem der größeren Orte entdeckten sie zierliche alte Pagoden, die direkt neben billig errichteten Mietskasernen

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