Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
dann aber zustimmend.
Gut. Solange du weg bist, gehe ich aus der Stadt raus, hoch in Richtung Berge, und verstecke mich dort im Wald.
Marie würde einige Zeit allein ausharren müssen.
Der nächste Zug fährt morgen, wenn es mir gelingt, vorher eine Fahrkarte zu bekommen, dann sitze ich da schon wieder drin. Komm einfach zum Bahnhof und halte Ausschau bei jedem Zug, der kommt. Spätestens nach einer Woche komme ich auf jeden Fall zurück, mit oder ohne Fahrkarte nach China.
Sie verließen den Bahnhof. Jeder von ihnen nahm nur leichtes Gepäck mit, das Zelt und alles andere hatten sie bei der Gepäckaufbewahrung zurückgelassen.
An einer der Bushaltestellen vor dem Gebäude setzten sie sich auf eine Bank. Jens wollte nur so viel Geld wie unbedingt nötig über die Grenze mitnehmen. Er zählte alle Scheine durch, die sie noch hatten, und teilte sie auf. Er steckte achthundert Ost-Mark für Marie in einen Umschlag und dann in ihren Rucksack.
SIE UMARMTEN SICH zum Abschied. Jens ging zum Zug, und Marie setzte sich in einen Bus, der aus der Stadt hinausfuhr. Der Wagen war voller Menschen, einige Fahrgäste waren betrunken, sie rempelten andere an und verbreiteten eine angespannte Stimmung.
Marie war in Gedanken versunken. War es das, was sie wollte? Ihr Kopf sagte: Na klar! Aber ihr Bauch tat weh. Es kam ihr plötzlich alles so überstürzt vor, das war nicht ihr Plan gewesen. Aber China war natürlich verlockend. Und die brenzlige Situation am Gandan-Kloster hatte ihnen die Kraft genommen, weiter in der Mongolei umherzureisen. Jens wollte nicht das Risiko eingehen, nach Hause geschickt zu werden: Sie selbst hatte ja noch gut einen Monat Zeit, um trotzdem pünktlich zum Studium zurück zu sein.
Marie war froh, als sie an der Endstation aus dem Bus aussteigen konnte, von dort aus ging sie zu Fuß weiter. Ihre Schritte wurden immer größer, je länger sie lief, und ihr Atmen immer flacher. Als sie einen dichten Wald erreicht hatte, suchte sie sich einen Platz zum Übernachten. Weit und breit war schon lange niemand mehr zu sehen gewesen. Im Wald fühlte sie sich wohl, sie liebte es, im Freien zu schlafen. Die Dämmerung hatte eingesetzt, es wurde kühl. Sie rollte ihre Matte unter einer Lärche aus, deren Zweige bis tief über den Boden hingen. Es roch nach erdigem Waldboden und würzigem Nadelholz.
Als sie in den Rucksack griff, fand sie das Geld nicht mehr, das ihr Jens gegeben hatte. Fieberhaft durchsuchte sie wieder und wieder alle Taschen des Rucksacks, aber es blieb dabei, das Geld war verschwunden. Marie schrie vor Wut laut auf. Jemand im Bus musste es gestohlen haben. Wie sollten sie nun durch China kommen?
Ihr Herz schlug heftig, ihr Magen krampfte sich zusammen. Dann beruhigte sie sich wieder. Zum Glück hatte sie den Pass, die anderen Ausweise und Visa sowie etwas Geld in ihrem Brustbeutel. Und der war da.
Marie erinnerte sich an die Schwierigkeiten, die sie auf dieser Reise schon überwunden hatte. Sie würden es auch so nach China schaffen. Sie kroch in den Schlafsack und dachte:
Früher hätte ich an dieser Stelle aufgegeben und wäre nach Hause zurückgefahren.
Sie lag an einem leichten Abhang unter den Bäumen, durch die lichten Zweige sah sie in den sternenklaren Himmel. Bald überfiel sie die Müdigkeit.
JENS KAM ERST am nächsten Morgen in der russischen Grenzstadt Nauschki an. Er ging gleich zum Fahrkartenschalter, doch es hieß, der Zug habe Verspätung.
Kommen Sie in sechs Stunden wieder!
Jens schlenderte durch den Ort. In einem der wenigen Schaufenster erblickte er Hochzeitsfotos. Vielleicht gab es hier auch Filme, er brauchte noch welche. Der Fotograf hatte zwar keine, gab ihm aber einen Tipp.
Oben in der Kaserne, da verkaufen sie Filme!
Jens war das nicht geheuer, beobachtete daher aus der Ferne erst einmal das Kasernentor. Offenbar gingen auch etliche Zivilisten ein und aus. Festen Schrittes näherte er sich daraufhin dem Wachhabenden, nickte ihm kurz zu und ging ohne Zögern weiter. Schnell fand er das Magasin. Hier gab es alles, von Wurst über Angelzubehör bis zu Kleidung. Im Regal hinter der Verkäuferin sah er einen großen Packen ORWO -Diafilme liegen. Filme, die es in der DDR selten gab, in der letzten russischen Stadt vor der mongolischen Grenze! Jens fragte, wie viele er kaufen könne. Die Verkäuferin antwortete: Alle! Jens sagte: Dann nehme ich alle. Die Emulsion war ihm egal. Er kaufte hundert Diafilme und dazu zwanzig Schwarz-Weiß-Filme und lief gut gelaunt zurück
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