Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
dass zu dieser Zeit noch kein verbindlicher Kanon existierte, so sahen sich die anderen Gemeinden ihrerseits verpflichtet, zu entscheiden, welche Schriften für sie Gültigkeit haben sollten und welche nicht. Die Liebe der Montanisten zu Offenbarungsschriften, die sich ausführlich mit dem Weltende beschäftigten, trug wesentlich dazu bei, dass bis auf die Johannesapokalypse, keine weitere Apokalypse mehr kanonisiert wurde, weder der Hirt des Hermas, noch die Petrusapokalypse oder irgendeine andere apokalyptische Schrift.
Gnosis
Eine weitere Bewegung, die mit der Entwicklung des Kanons verbunden ist, ist die nun schon einige Male angesprochene Gnosis. „Gnosis“ heißt im Griechischen nichts anderes als Erkenntnis oder Wissen. Schon in der platonischen sowie in den verschiedensten griechischen Philosophien spielten Erkenntnis und Wissen eine wesentliche Rolle, ohne damit gleich religiöse Komponenten, die für die Gnosis als Bewegung sehr wichtig sind, zu beinhalten. Dass die griechischen Philosophenschulen durchaus heilsrelevante Aspekte beinhalteten, soll damit aber nicht negiert werden. Auch in der jüdischen sowie der frühchristlichen Tradition war der Begriff Erkenntnis, Gnosis, von großer Bedeutung, ohne, dass damit jedoch das verbunden wurde, was religionswissenschaftlich unter dem Terminus Gnosis seit Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. verstanden wurde und wird.
Die Gnosis als eigenes religiöses System war eine geistige Richtung, die mittels wahrer Erkenntnis das Heil zu erlangen versuchte. Ihre Anhänger und Vertreter nannten sich aber in der Regel nicht Gnostiker. Manche bezeichneten sich einfach nur als Christen, was für ihre christlichen Widersacher aus der sich entwickelnden Großkirche natürlich eine ungeheuere Anmaßung darstellte, andere nannten sich die Vollkommenen, Erwählte, Nachkommen Seths etc. Man darf sich also die Gnosis nicht als einheitliche Lehre vorstellen. Es handelt sich hier um ein synkretistisches, d. h. die verschiedensten Lehren beinhaltendes Phänomen, das im gesamten Mittelmeerraum und im Vorderen Orient bis nach Persien hin verbreitet war.
Die Einordnung der verschiedensten Lehren unter den Begriff Gnosis war ein Resultat der christlichen Theologie, die sich mit diesen Gruppierungen kritisch auseinandersetzte. Der bekannteste antike christliche Gnosis-Bekämpfer war Irenäus von Lyon, der um 180 n. Chr. ein Werk verfasste, das unter dem Titel „Gegen die Häresien“ bekannt ist. Es ist heute noch von Bedeutung, da in ihm viele Meinungen und Lehren gnostischer Gruppierungen dargestellt sind, allerdings in einer oftmals so polemischen Art und Weise, dass nicht immer zu erkennen ist, ob es sich hier tatsächlich um die Lehren der jeweiligen Gruppen oder um Irenäus’ Ansichten handelt. Eine weitere wichtigeQuelle bezüglich gnostischer Lehren war das „Arzneikästchen gegen die Häresien“ des Epiphanius von Salamis, das dieser Ende des 4. Jahrhunderts verfasste. Ähnlich wie bei Irenäus ist es allerdings sehr schwierig, historisch gesicherte Fakten von Gerüchten und Verleumdungen zu unterscheiden, so dass Vieles von dem, was dort zu lesen ist, mit größter Vorsicht behandelt werden muss. Nur fragmentarisch überliefert ist die Schrift „Widerlegung aller Häresien“ des Hippolyt von Rom, die dieser zu Beginn des 3. Jahrhunderts schrieb. Was die in all diesen Werken skizzierten und oftmals polemisch karikierten Gruppierungen jedoch wirklich lehrten, ließ sich mit Gewissheit erst durch Textfunde gnostischer Schriften, die seit Ende des 19. Jahrhunderts peu a peu ans Tageslicht gelangen, erschließen. Der sensationellste Fund diesbezüglich war sicher der von Nag Hammadi 1945.
Kennzeichnend für die meisten christlichen Theologen, welche gnostische Bewegungen bekämpften, war die Tatsache, dass sie in der Gnosis keine eigenständige Lehre sahen, sondern eine christliche Häresie, die es zu bekämpfen galt. Inwieweit nun Gnostiker, die sich auf christliche Lehren stützten, als christliche Gnostiker oder gnostische Christen bezeichnet werden können, lässt sich wohl nicht definitiv entscheiden. Sicher ist, dass viele Christen, die ein gnostisches Christentum pflegten, sich als echte, ja als die wahren Christen verstanden. Wichtig ist es bei dieser Frage stets im Hinterkopf zu behalten, dass beide Traditionen zu dieser Zeit eben noch keine fertigen und abgeschlossenen Bewegungen waren, sondern sich aufgrund ihrer zeitgleichen Existenz gegenseitig beeinflussten. In
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