Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
existierte. Aus dieser Situation ging z. B. die Briefliteratur des Neuen Testaments hervor. Dennoch galt die Autorität der Botschaft einer Schrift und nicht ihrer Darstellung. Wäre das erste Evangelium seinem Inhalt nach für unantastbar gehalten worden, dann hätten weder Matthäus noch Lukas ihre Werke verfassen können, da sie Markus nach eigenen Gesichtspunkten umgestalteten. Das Johannesevangelium mit seiner eigenen inhaltlichen und theologischen Konzeption wäre nie geschrieben worden. Was aber unausweichlich mit der Weitergabe dieser Schriften einherging, war eine aus dem Gebrauch und der Überlieferung erwachsende Autorität – insbesondere deshalb, weil man die in diesen Schriften verkündigte Lehre mit Zeitzeugen Jesu in Verbindung brachte. Die den Evangelisten vorliegenden Quellen hatten alle direkten Bezug zur Urgemeinde. Ferner sei noch einmal an den Versuch erinnert,die Evangelisten mit Personen zu identifizieren, die direkten Kontakt zu Jesus oder einem seiner Apostel hatten. Die Bewahrung der authentischen Lehre wurde im Lauf der Jahre und Jahrzehnte immer wichtiger, denn mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu Jesus und seiner Verkündigung und dem Wachsen der Gemeinden, vermehrten sich auch die verschiedensten Interpretationen der jesuanischen Lehre. Damit waren Konflikte innerhalb der Gemeinden und zwischen ihnen vorprogrammiert, denn jede Interpretation trat mit dem Anspruch der Alleingültigkeit auf.
Dass es diese Auseinandersetzungen bereits in der Urkirche gab, bezeugen die Apostelgeschichte und die paulinischen Briefe. In der wohl für die Entwicklung des Christentums wesentlichsten Frage, ob Heiden, die zum Christentum konvertieren, das jüdische Gesetz und die Beschneidung anerkennen müssen oder nicht, konnte sich die Richtung durchsetzen, die dies für nicht notwendig ansah. Mit dieser Entscheidung, Heiden auch ohne Beschneidung im Christentum aufzunehmen, war der Schritt von einer jüdischen Sekte hin zur Weltreligion getan. Hätte man an der Beschneidung festgehalten, wäre die Missionierung der nicht-jüdischen Welt kaum von Erfolg gekrönt gewesen. Das Christentum wäre, wie viele andere jüdische Splittergruppen, über kurz oder lang vom Erdboden verschwunden. Es hätte vielleicht, ähnlich wie die Essener, durch 2000 Jahre alte Schriftfunde das Interesse von Forschern geweckt, ohne Bedeutung für die heutige Welt. Auseinandersetzungen bei der Suche nach der richtigen und verbindlichen Lehre stellen ein Phänomen dar, das in allen Religionen, die sich auf einen historischen Stifter berufen, zu finden ist. Es sei nur an die Schulstreitereien im frühen Buddhismus erinnert, die die Aufspaltung des Buddhismus in verschiedene Richtungen zur Folge hatte. Oder man denke an die im Islam auftretenden Konflikte, die mit der Nachfolge Mohammeds zusammenhingen und in der Spaltung der Gemeinde in Sunniten und Schiiten endeten. Ob nicht bereits die erste Wiedergabe einer Lehre durch Schüler eine Interpretation des Gesagten darstellt, soll in diesem Zusammenhang nicht weiter erläutert werden.
Z UR A BWEHR MARCIONITISCHER, MONTANISTISCHER UND GNOSTISCHER I NTERPRETATIONEN DER T RADITION DURCH DIE G ROSSKIRCHE
Marcionismus
Für das Christentum des 2. Jahrhunderts lassen sich viele verschiedene Strömungen feststellen, die als Bedrohung der wahren Tradition empfunden wurden. Eine, die auch solchen Einfluss auf die Ausbildung des Kanons hatte, ist der Marcionismus. Der Gründer dieser Bewegung Marcion wurde um das Jahr 85 n. Chr. als Sohn des Bischofs von Sinope geboren. Ab 140 n. Chr. wirkte er in Rom, wo er seine Lehre verbreitete. Nach vier Jahren kam es aber zum großen Streit und Marcion suchte sich einen anderen Betätigungsraum. Seine nun begonnene Mission war wohl auch aufgrund des von ihm geforderten ethischen Rigorismus von großem Erfolg begleitet. Bis nach Nordsyrien breitete sich seine Lehre aus, in der die Ablehnung des Alten Testaments ein wichtiges Element darstellte. Marcion vertrat die Ansicht, dass der strafende Gott des Alten Testaments mit dem liebenden Gott der jesuanischen Verkündigung nichts zu tun hatte. In Jesus offenbarte dieser Gott der Liebe sich selbst. Für Marcion ergab sich also aus seiner Textanalyse die Konsequenz, dass es sich beim Gott des Alten Testaments und bei dem des Neuen um zwei verschiedene Götter handeln müsse, wovon der des Alten Testamentes dem des Neuen untergeordnet sei. Obwohl Jesus in Marcions System nur einen Scheinleib annahm, starb er am
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